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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Litzky hat er geheißen, das war ein echter Neuerer, der ist schon ganz im Chaos aufgegangen, bevor die Welt noch wußte, daß das eine Wissenschaft ist. Er wurde wegen antikommunistischer Tendenzen von der Moskauer Universität ausgeschlossen, nachdem jemand ein Exemplar von Solschenizyns Im ersten Kreis bei ihm gefunden hatte. Das war mitten im Semester. Professor Litzky setzte seine Vorlesungen in der U-Bahn fort. Er rief immer seine Studenten an, nannte eine U-Bahn-Station und eine bestimmte Zeit. Wir zwängten uns alle in den Wagen, die Türen gingen zu, und Litzky dozierte über Fraktale als Möglichkeit, das Unendliche sichtbar zu machen, über die endlosen Verzweigungskaskaden, über Unstetigkeiten, über Periodizitäten. Er dozierte zwölf bis fünfzehn Stationen lang, und manche von uns machten sich krakelige Notizen, während die U-Bahn über die Gleise ratterte. Während der Vorlesung steckten wir ihm Umschläge mit Rubelscheinen in die riesigen Taschen seines Mantels. Von Litzky verfaßte Artikel wurden nicht veröffentlicht, Bücher kamen ohnehin nicht in Frage, aber er gilt trotzdem heute noch als Vater des sowjetischen Chaos.«
    Lemuel schüttelt verzweifelt den Kopf. Seine Stimme belegt sich. »Du hättest uns sehen sollen, wie wir da in der U-Bahn rumhingen, uns an den Schlaufen festhielten und uns zu ihm hinbeugten, um ja kein Wort, keine Silbe zu verpassen, und wie er in seinem zwei Nummern zu großen Mantel an jeder Haltestelle eine Pause machte, bis die aufgezeichnete Ansage der Station kam, und sich dann wieder ins Chaos stürzte. Von Diffeomorphismen gefalteter Zahlenebenen hörte ich zum erstenmal zwischen Flughafen und Retschnoi Woksal. Von stetigen ›Nudel‹-Abbildungen zwischen Komsomolski und Marx-Prospekt. Wir genossen die Reise und fürchteten die Ankunft. Wir wußten nie vorher, an welcher Haltestelle die Vorlesung enden würde. Litzky wartete immer bis zum allerletzten Augenblick und sprang erst aus dem Wagen, wenn die Türen schon zugingen; einmal verfing sich sein Mantel in der Tür, und wir mußten die Notbremse ziehen, um ihn zu befreien. Er stakste immer davon und tauchte in der Menge unter, mit eingezogenem Kopf wie eine Schildkröte, verloren in seinem Mantel, verloren in seinen Gedanken. Dann sahen wir uns an, erstaunt über Dinge, die er nicht erklärt hatte, von denen er annahm, wir würden sie schon verstehen, erstaunt über eine Welt, in der das Chaos wie ein altes Hemd an Passagiere eines U-Bahn-Zuges weitergereicht wurde. Später, im mündlichen Examen, wurden wir aufgefordert, unsere Quellen anzugeben, aber keiner hatte den Mut, Litzky zu nennen. Also logen wir und gaben Aufsätze von obskuren Transsylvaniern oder Ungarn an.« Lemuel schüttelt den Kopf, während er versucht, seine eigene Geschichte zu verdauen. »In Schuld und Sühne läßt Dostojewski eine Figur namens Rasumichin sagen, daß es möglich ist, uns zur Wahrheit durchzulügen.« Die Stimme versagt ihm, seine Augen sind auf etwas in der Vergangenheit gerichtet. »Ich habe mich weiß Gott mein Leben lang zur Wahrheit durchgelogen.«
    Rain zieht Lemuels Kopf an ihre Brust und massiert ihm die Stirn. »Rußland«, hört sie ihn murmeln, »ist das letzte.«
    »Verglichen mit Amerika«, sagt Rain, ihren eigenen Gedanken nachhängend, »ist Rußland einsame Spitze. Das einzig Interessante, was mir jemals in der U-Bahn passiert ist, war, als ein Exhibitionist seine Hose aufgemacht hat. Sachen gibt’s.«
     
    Lemuel kann nicht schlafen und geht bis in die frühen Morgenstunden in dem unaufgeräumten Wohnzimmer auf und ab, denkt über die Weiße der Nacht nach, kritzelt Differentialgleichungen auf die Rückseite von Briefumschlägen, versucht, die Mysterien der Serienmorde aufzuklären, die sic h hartnäckig als zufällig darstellen, gleichgültig, wie oft er die Münze wirft.
    Irgendwann nach Mitternacht kommt Rain auf der Suche nach einem Glas Wasser durchs Zimmer. Sie trägt flauschige Hauspantoffeln und ein T-Shirt, das in der Wäsche eingegangen ist und ihr kaum bis zum Nabel reicht. Die ausgebleichte Aufschrift quer über die Brust lautet: »Frauen, die Männern nacheifern, haben keinen Ehrgeiz.« Unter dem Satz steht der Name T. Leary.
    »Wer ist T. Leary?« fragte Lemuel Rain, als sie aus der Küche zurückgeschlurft kommt.
    »Ich nehme an, er war ein Zeitgenosse von Tolstoi.« Sie läßt sich in den einzigen Sessel im Zimmer fallen und die Beine über die Armlehne baumeln. Mayday auf ihrer Decke wacht

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