Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
sich mit einem englischen Bleistift, den Greenley ihr geschenkt hatte, in ein Buch zeichnen und schreiben.
Zwanzig Figuren und mehr versammelten sich inzwischen auf der Bühne rund um den verlorenen Gelehrten, einen berühmten Doktor aus Paris, und stritten um ihn und seine Seele. Auf rätselhafte Weise wechselte das Licht ständig von hell zu dunkel und umgekehrt. Es herrschte heilloses Gewimmel und gnadenlos wurde auf Lateinisch deklamiert – schon länger als zwei Stunden inzwischen –, und die ganze Verhandlung schien nach Davids Eindruck auf ein ebenso gnadenloses Ende für den bedauernswerten Doktor hinauszulaufen. Obwohl auch dieser ausdruckslos und lateinisch daherkam, hatte David längst für ihn Partei ergriffen – aus purem Unwillen über diese bleiche Art von Komödiantentum.
Wer denn all diese Gestalten in den schwarzen, weißen, goldenen und blutroten Kleidern dort auf der Bühne seien, hörte David Susanna flüsternd fragen. Zum einen der Schutzengel des Doktors mit seinem Gefolge, erklärte der dicke Taylor ebenfallsflüsternd, dann eine Menge Teufel, die es auf die Seele des Doktors abgesehen hatten, dann seine Seele selbst, sein Geist und die versammelten Verkörperungen all seiner Sünden – Ruhmsucht, Heuchelei, Eigenliebe und dergleichen –, dann seine Krankheiten und der Tod und schließlich die üblichen Verdächtigen, wenn es ums Jüngste Gericht ging: Christus, der Erzengel Michael, die Jungfrau Maria, die Apostel Petrus, Paulus und so weiter und so weiter.
David hörte nicht mehr zu – dem Geflüster John Taylors nicht, und der lateinischen Wortmühle von der Bühne sowieso nicht. Von der Seite betrachtete er Susanna, und das nicht ohne Bitterkeit: Sie verweigerte sich ihm noch immer.
Vier Monate war es her, dass dieser alte Pfaffe in Nürnberg sie zu Mann und Frau erklärt hatte, und noch immer durfte David die Geliebte nicht auf die einzige Weise in den Armen halten, wie ein Mann seine Gattin in den Armen halten sollte. Wenigstens einmal in der Nacht.
Und wie jeden Tag – ja, wie beinahe jede Stunde des vergangenen Sommers – wollten seine Gedanken nun gar nicht mehr aufhören, um das Eine zu kreisen, das Susanna ihm schon viel zu lange abschlug. Während der ganzen dritten Stunde der frommen Tragödie dachte er an nichts anderes als daran, wie es sich anfühlen mochte, Susanna zu küssen, ihre Haut zu streicheln, an ihren Brüsten zu knabbern und zwischen ihren Schenkeln außer sich zu geraten.
Ein dumpfer Schrei von der Bühne riss David aus seinen sehnsüchtigen Gedanken. Er schreckte hoch, spähte zur Bühne. Dort versenkte man einen Sarg in der Erde – aus ihm schrie einer auf Lateinisch. »Er sagt, er sei verloren«, fasste Taylor das Geschrei erst auf Englisch, dann auf Deutsch zusammen. Endlich fuhr der berühmte Pariser Doktor also zur Hölle. Ein paar Teufel beschafften ihm einen Willkommenstrunk aus Pech und Schwefel und bemühten sich auch sonst redlich, ihm diese letzte Reise möglichstqualvoll zu gestalten. Wild und gefährlich sahen die aus, sprachen, fuchtelten und stelzten aber genauso langweilig und brav wie alle anderen auch.
Auf den Bänken um sich herum sah David zu seinem Erstaunen viele Halbwüchsige und Männer, die sich bekreuzigten. Und wer sich nicht bekreuzigte, bewegte wenigstens die Lippen in stummem Gebet. Etliche Jungen und Patres wischten sich die Tränen aus den Augen, einer weinte sogar laut.
Susanna zeichnete noch immer. Einmal erhaschte David einen Blick in das Buch auf ihrem Schoß – Umrisse von Kostümen und Hüten waren darin unter ihrem Stift entstanden. Beim zweiten Blick erkannte David Kostüme und Hüte wieder, die er auch auf der Bühne gesehen hatte.
Zum Schluss des Dramas trat dann noch einmal der weltabgewandte Heilige auf und ermahnte seine Jünger zu Armut, Demut und gottwohlgefälligem Leben, und dann war es vorbei.
»Langweilige Geschichte«, murmelte David, während er mit den anderen durch den Mittelgang zur Bühne ging; Greenley wollte ein paar Worte mit dem Spielleiter sprechen. »Und langweilig gespielt. Ohne Herz. Und keinen einzigen Grund zum Lachen gab es.« Auch der Niederländer und Susanna wirkten nicht gerade begeistert. Und Aaron war nach einer Stunde eingeschlafen.
»Einen wie Jean Potage oder den Pickelhering kennen die Jesuiten nicht«, sagte Greenley. »Allerdings möchte ich hinter den schönen Kostümen und der prächtigen Bühnenausstattung schon ein wenig Herz vermuten. Doch wenn sie spielen,
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