Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
zu stoßen, und Hannes dachte zuerst an Susanna und dann an seine Mutter.
Doch plötzlich hob der zweite Dragoner seinen Degen und blockte dem anderen den tödlichen Stoß. »Um Gottes willen, Hannes!«, rief er, und es klang irgendwie pfälzisch und auch sonst recht vertraut. Als der Blondschopf dann vor ihm in die Hocke ging, sah Hannes, wie dessen Miene zwischen Lachen und Weinen schwankte und seine hellblauen Augen sich mit Wasser füllten.
Und dann erkannte er ihn. »Friedrich …« Er streckte die zitternden Hände nach dem geliebten Gesicht des Bruders aus. »Du lebst, Friedrich?«
9
D er Kleine quäkte und strampelte, wollte nicht länger getragen werden. Also setzte Susanna ihn ab. Als er loslief und sie sich aufrichtete und all die herrlich gekleideten Edelleute unter den Prachtlüstern des Schlosssaales sah, da erlebte sie wieder einen jener fiebrigen Momente, in denen ihr schwindlig wurde und sie sich besinnen musste, wo sie überhaupt war und welches Datum man schrieb.
Wo um alles in der Welt war die Zeit geblieben? Letzten Sommer von Magdeburg die Elbe hinunter nach Böhmen, von Prag dann weiter nach Wien und Graz, und nach dem Osterfest zurück nach Böhmen und die Elbe wieder hinauf hierher nach Dresden – die Zeit flog dahin. Wie lange lagen denn die Wochen in Magdeburg schon zurück?
Das fragte Susanna sich, während sie ihren kleinen Sohn beobachtete – lallend und mit erhobenen Fäustchen tapste er durch den Festsaal an lauter eleganten Damen und Herren vorbei und strahlte selbst den hölzernsten kursächsischen Hofbeamten noch so herzig an, dass der die würdevolle Façon seiner Miene für einen Moment aufgeben und lächeln musste.
Vergangene Woche, kurz nach seinem ersten Geburtstag, hatte John seine ersten Schritte gemacht. Also konnte Magdeburg noch nicht länger als ein Jahr her sein. Ihr wurde ganz schwindlig. Verging denn die Zeit wirklich so schnell?
»Ja, wen haben wir denn da?« Die Gattin des Kurfürsten, Magdalena Sibylle, ging vor dem Kerlchen in die Hocke. »Ja, wer ist denn dieser süße Fratz?« Sie fasste sein ausgestrecktes Händchen und konnte gar nicht anders, als sein Strahlen zu erwidern.
»Das ist mein Sohn«, erklärte David stolz.
»Man könnte ihn auch ›unseren‹ Sohn nennen, wenn man wollte«, sagte Susanna spitz, und Magdalena Sibylle zwinkerte lächelnd zu ihr herauf.
»Wie heißt er denn?«, wollte der Kurfürst Johann Georg wissen. Sein Gesicht schien noch länger geworden seit der Hochzeit auf der Herzenburg, seine Augen noch müder und der Bierbauch unter dem edlen Samtrock noch größer.
»Friedrich Johannes«, erwiderte Susanna mit charmantem Lächeln. Der Kurfürst zog die Brauen hoch, neigte den Kopf und wollte sich wohl irgendwie erfreut zeigen. Greenley hatte Susanna eingeschärft, vor seinen Ohren bloß nicht darüber zu sprechen, dass sie aus der ehemaligen Kurpfalz stammte und reformiert getauft war. Der sächsische Kurfürst liebte die Jagd, den Kaiser und das Biertrinken – und er hasste die Calvinisten.
»Wir rufen ihn ›John‹«, sagte David. »Die Engländer unter den Komödianten haben angefangen, ihn so zu nennen. Und da wir meistens unter englischen Komödianten sind, heißt er jetzt eben John.«
»Ich nenne ihn Fritzjohn«, ergriff Greenley das Wort. »Halb deutsch, halb englisch, versteht ihr, Durchlaucht? Wenn er einmal alt genug ist, wird er die englische Komödiantentradition hoffentlich unter den Deutschen fortsetzen und erhalten. Ich bin jetzt schon sehr stolz auf Fritzjohn Villacher.«
»Deutsch?«, wandte Magdalena Sibylle sich an David. »Ist der Herr Komödiant nicht ein österreichisches Landeskind?« Alle hier behandelten David mit dem größten Respekt; die sächsische Fürstin machte kein Geheimnis aus ihrer Bewunderung für seine Schauspielkünste. Die Prinzessin noch viel weniger. Manchmal genoss es Susanna, manchmal machte es ihr Angst.
»Ja, das bin ich wohl«, antwortete David, und der Kurfürst brummte: »Friedrich Johann gefällt mir besser.« Ihn übrigens nannten viele Höflinge »Bierjörge« mit zweitem Namen, natürlich nur hinter vorgehaltener Hand.
Seine Gattin nahm jetzt den Knaben auf den Arm und erhob sich. Mit seinen immer feuchten und meist auch klebrigen Händen grabschte John nach ihrem filigranen Spitzenkragen. »Vorsicht, Durchlaucht!« Eine Kammerzofe eilte herbei. »Euer Kleid!«
»Das macht doch gar nichts«, lachte die Fürstin, dann an einen Halbwüchsigen gewandt, der etwas
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