Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
so will ich halten stille …«
Susannas Stimme versagte, Tränen erstickten ihre Worte – sie dachte an ihren Vater. Unser kleines Leben allein bedeutet nicht viel , waren das nicht seine Worte gewesen, damals auf dem Wagen, als der Frieden noch nicht zerbrochen schien? Ein greller Blitz zuckte, und sofort krachte der Donner so überirdisch laut, dass Susanna sich auf den Boden warf und die Knie anzog.
»Hol mich schnell, du gütiger Gott«, flüsterte sie. »Wenn es denn sein soll und auch meine Zeit zu Ende ist, dann hole mich ganz schnell dorthin, wo der Vater wartet. Bitte, bitte, amen, amen.«
Sie weinte in den Ärmel ihres Kleides und dachte an Hannes. Wahrscheinlich war ja auch er tot – Flüchtlinge hatten von vielen Gräbern in einem niedergebrannten Weiler im Odenwald erzählt –, vielleicht wartete ja auch er schon im Himmel auf sie, vielleicht gab es ja dort einen kleinen Winkel, wo Rechtgläubige und Papisten gemeinsam Gott loben konnten.
Euer Herz erschrecke nicht! Glaubet an Gott! Verse aus dem Johannes-Evangelium schossen ihr durch den Kopf. Flüsternd und im Rhythmus ihrer stoßartigen Atemzüge keuchte Susanna sieheraus. »›In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten …‹« In seiner letzten Predigt hatte der alte Magister Pareus über diese Worte des Heilands gepredigt; kurz bevor er starb, kurz bevor der geharnischte Mönch vor den Toren der Stadt aufmarschiert war. »›Ich will wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin …‹«
Nein, es wäre gar nicht schlimm zu sterben und beim Heiland zu sein. All die Gräuel, von denen man beinahe täglich hören musste, all die schändlichen Dinge, die rohe Männer Rhein auf, Rhein ab und im Neckartal armen Menschen antaten, und dann der Kanonendonner Tag für Tag und das schreckliche Klirren, Stampfen und Brüllen, wenn die Truppen des geharnischten Mönchs in voller Schlachtordnung vor der Westmauer aufmarschierten – musste man da nicht froh und dankbar sein, wenn man all das nicht länger hören, wenn man all das am Ende nicht selbst erleiden musste?
»Nimm mich zu dir, lieber Herr Jesus, und lass es schnell geschehen und mit wenigen Schmerzen, bitte, bitte, bitte …«
Und das liebe Bild des toten Vaters – morgens, wenn sie die rot geweinten Augen aufschlug, stand es in ihrer Seele auf, abends wenn sie weinend und schlaflos neben Anna lag, füllte es noch immer ihre Gedanken aus.
Und dann das heiß geliebte Gesicht des so sehr vermissten Hannes – wenn sie den toten Vater nicht sah, sah sie dieses Gesicht vor ihrem inneren Auge schweben, dachte daran, wie sie zu lange gezögert hatte bei ihrem Fluchtversuch aus Handschuhsheim, dachte an die Gräber im verbrannten Walddorf, von denen man ihr erzählt hatte. Und ein Gefühl kroch schwer durch ihre Glieder und in ihre Brust, ein Gefühl, als wäre ihr Leben schon vorbei, wo es doch gerade erst hatte beginnen wollen; als wäre ihre Zukunft zerbrochen und sie selbst schon halb gestorben. Und verhielt es sich nicht genau so?
»Nimm mich zu dir, lieber Jesus«, flüsterte sie. »Gott wird abwischen alle Tränen! Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein …« Ihre Stimme erstickte.
So lag sie zwischen zwei Kirchbänken und weinte sich die Augen aus, und Donnerschläge und Orkanbrausen hüllten sie ein, als wäre sie nur ein Tropfen Regen, ein Blatt im Sturm. Sie verstummte, ihr Körper bebte und zuckte nur noch, um dann und wann Atem zu holen.
Lange lag Susanna so und wartete darauf, dass der Orkan oder wieder einsetzender Kanonenbeschuss die Heilig-Geist-Kirche zertrümmerte, wartete auf den Tod; bis ihr einfiel, dass sie ja sterben würde, ohne das Grab ihres Vaters gesehen zu haben, dass sie zum Heiland in den Himmel gehen würde, ohne ganz sicher sein zu können, Hannes wirklich dort zu treffen.
Susanna atmete tief durch. Vielleicht lebte er ja doch noch, der geliebte Hannes aus dem Walddorf. Sie richtete sich auf, warf einen Blick auf die betenden Menschen im Kirchengestühl, presste dann die Stirn wieder gegen die gefalteten Hände. »Doch wenn es dir gefällt, mich am Leben zu lassen, will ich dir für immer dienen, lieber Heiland …« Ganz andere Worte der Bibel und des Gesangbuchs kamen ihr nun über die Lippen. »Und wenn die Welt voll Teufel wär’ und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen …« Der Orkan ließ
Weitere Kostenlose Bücher