Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
für kurze Zeit, und das Rauschen der Baumkronen schwoll für Augenblicke ab – von Herzenburg hörte Stimmen rufen draußen im Lager. Hastig zog er sich an, stieg in seine Stiefel, griff nach Hut und Degen und bückte sich aus dem schwankenden Zelt.
Regen klatschte ihm ins Gesicht, Sturm riss ihm den Hut vom Kopf. Überall schrien Männer und da und dort auch Frauen. Blitze erhellten die Düsternis. Sturzbäche rauschten aus dem Wald ins Lager hinein; kaum die Hälfte der Zelte stand noch. Nicht weit entfernt knieten Schneeberger und das blonde Mädchen im Schlamm, das er aus dem Odenwald verschleppt hatte und sich seitdem als Hure hielt. Sie wühlten das Hab und Gut des Feldwebels aus dessen zusammengestürztem Zelt und aus dem Schlamm, der es halb unter sich begraben hatte.
Plötzlich tauchten von Torgau und der Leutnant vor dem Rittmeister auf. »Eine Sintflut, Max!«, schrie der Cornet – und seltsam: Er schien zu lachen dabei. »Es kommt wie eine Sintflut über uns!«
Der Leutnant deutete in das Gewimmel der Männer. »Wir müssen das Lager räumen, Rittmeister, sonst versinken unsere Leute samt ihrer Habseligkeiten in Wasser und Schlamm!«
*
Blitze zuckten auf vor den Fenstern der Heilig-Geist-Kirche, wieder und wieder, tauchten das Kirchenschiff Wimpernschläge lang in gespenstisches Licht; man konnte nicht ein Mal durchatmen, ohne dass greller Blitz ins Halbdunkle stach und fast zeitgleich der Donner krachte. Susanna kauerte ganz vorn im Gestühl, presste die gefalteten Hände gegen die Stirn, murmelte Bibelsprüche, flüsterte Gebete, sagte Lieder auf gegen die Angst, den Schmerz und die Trauer in der wunden Brust.
»Gottes Wege sind vollkommen, er ist ein Schild allen, die ihmvertrauen …, ein feste Burg ist unser Gott … errette uns, lieber Heiland, steh uns bei …«
Regen trommelte gegen die Fenster und aufs Kirchdach, Orkanböen prallten gegen das Gotteshaus, heulten durch Ritzen und zerbrochene Scheiben herein. Die Kanonen auf dem Heiligenberg und in Neuenheim schwiegen längst, in Susannas Ohren und Kopf jedoch dröhnte noch immer Kanonendonner, würde wohl nie mehr aufhören zu dröhnen. Die Turmuhr schlug halb fünf.
»Von Gott will ich nicht lassen, denn er lässt nicht von mir, führt mich durch alle Straßen, da ich sonst irrte sehr …« Ihre Stimme zitterte. »Errette mich, Jesus Christus, steh mir bei …«
Sie war nicht allein in der großen Kirche. An die dreißig Männer und Frauen hatten sich an diesem Nachmittag noch in die Heilig-Geist-Kirche geflüchtet. Sie knieten in den Bänken – manche in Grüppchen zusammengedrängt, manche zu zweit und fest umarmt, manche ganz für sich, so wie Susanna. Was suchten sie hier? Trost, Halt, Schutz? Wo gab es den noch? Vielleicht suchten sie ein schnelles Ende, denn die Kirche stand unter Beschuss, war sogar schon getroffen worden. Vielleicht suchte auch Meister Almuts Tochter ein schnelles Ende …
»Bitte, lieber Heiland, bitte, bitte …« Als verwaschene Seufzer stürzten ihr die Worte über die bebenden Lippen. »Wenn wir in höchsten Nöten sein und wissen nicht, wo aus noch ein, und finden weder Hilf noch Rat, ob wir gleich sorgen früh und spat, so ist dies unser Trost allein …«
Durch ein Loch im zweiten Nordfenster fauchten Orkanböen herein, schleuderten Blattwerk, Schmutz und Wasser in die Kirche. Der dauernde Kanonenbeschuss der letzten Wochen hatte noch keinen Bürger von Heidelberg getötet, jedoch etliche verletzt, alle in eine Art Dauerschrecken versetzt und zahlreiche Gebäude beschädigt. Einige schwere Kanonenkugeln hatten auch die Heilig-Geist-Kirche getroffen, waren ins Dach oder in die Fenster eingeschlagen. Eine Kugel hatte eine Säule des Mittelschiffs zerschmettert, eine andere ein Stück des Grabmals des Kurfürsten Ludwig abgesprengt.
»… dass wir zusammen insgemein dich anrufen, o treuer Gott, um Rettung aus der Angst und Not …«
Der Magistrat hatte verboten, die große Kirche auf dem Marktplatz zu betreten. Zu direkt in der Schusslinie der Kartaunen auf dem Heiligenberg liege sie, zu gefährlich für Leib und Leben sei das. Ja, vielleicht suchten die, die an diesem nachtschwarzen Nachmittag hier beteten und kauerten, wirklich mehr als nur Unterschlupf vor dem Gewittersturm. Vielleicht suchten sie wirklich ein schnelles Ende in ihrer nicht enden wollenden Erschütterung und grenzenlosen Angst.
»… muss ich Sünder von der Welt hinfahr’n nach Gottes Wille zu meinem Gott, wenn’s ihm gefällt,
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