Der Gefangene
Vielleicht war alles etwas eingerostet, und sie wussten gar nicht, was sie da taten.
Der Direktor fuhrt fort. Man wolle sofort mit den Vorbereitungen beginnen. Zu klären sei noch, was mit der Leiche geschehen solle.
Welche Leiche?, dachte Tommy. Meine Leiche?
Die Verwaltungsangestellten, Assistenten und Sekretärinnen starrten auf ihre Notizblöcke und kritzelten die gleichen Wörter. Wozu sind eigentlich all diese Leute da?, fragte sich Tommy.
Schicken Sie mich doch einfach zu meiner Mutter, versuchte Tommy zu sagen. Seine Knie gaben nach, als er aufstand. Die Wärter packten ihn und führten ihn in den F-Trakt zurück. Er verkroch sich in sein Bett und weinte, nicht um sich selbst, sondern um seine Familie, vor allem um seine Mutter.
Zwei Tage später teilte man ihm mit, es sei alles ein Irrtum gewesen. Irgendwo habe irgendjemand irgendwelche Unterlagen falsch bearbeitet. Die Hinrichtung sei aufgeschoben, und in der nächsten Zeit werde Mrs Ward die Leiche ihres Sohnes nicht abholen müssen.
Solche Fehlstarts waren nichts Ungewöhnliches. Einige Wochen nachdem ihr Bruder nach McAlester verlegt worden war, bekam Annette einen Brief des Gefängnisdirektors. Sie ging davon aus, dass es sich um eine Routinesache handelte. Angesichts der aggressiven Stimmung in McAlester hatte sie damit vielleicht sogar recht.
Sehr geehrte Ms Hudson,
mit großem Bedauern muss ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass die Hinrichtung Ihres Bruders, Ronald Keith Williamson, Nummer 134846, für den 18. Juli 1988, 12:02 Uhr, im Staatsgefängnis von Oklahoma angesetzt wurde.
Ihr Bruder wird am Tag vor der Hinrichtung vormittags aus seiner regulären Zelle in eine andere Zelle verlegt. Ab diesem Zeitpunkt ändern sich seine Besuchsrechte wie folgt: 9:00 bis 12:00 Uhr, 13:00 bis 16:00 Uhr und 18:00 bis 20:00 Uhr. Besuche in den letzten vierundzwanzig Stunden sind beschränkt auf den geistlichen Beistand, den Prozessbevollmächtigten und zwei weitere Personen, die die Erlaubnis des Gefängnisdirektors benötigen. Ihr Bruder hat das Recht, fünf Zeugen zur Hinrichtung einzuladen. Diese Zeugen müssen vom Gefängnisdirektor genehmigt werden.
So schmerzlich dies auch sein mag, es müssen Vorkehrungen für die Beerdigung getroffen werden, die Sache der Familie sind. Sollte die Familie diesbezüglich keine Angaben machen, wird der Staat für die Beerdigung sorgen. Bitte teilen Sie uns Ihre Entscheidung in dieser Angelegenheit mit. Sollten Sie weitere Informationen benötigen oder sollte ich Ihnen irgendwie behilflich sein können, setzen Sie sich bitte mit mir in Verbindung.
Mit freundlichen Grüßen
James L. Saffle, Gefängnisdirektor
Der Brief war vom 21. Juni 1988, keine zwei Monate, nachdem man Ron nach McAlester verlegt hatte. Annette wusste, dass in Fällen, in denen die Todesstrafe ausgesprochen worden war, automatisch Revision eingelegt wurde. Vielleicht sollte also jemand die Behörden informieren, die für Hinrichtungen zuständig waren.
So schockierend der Brief auch war, Annette gelang es, ihn zu vergessen. Ihr Bruder war unschuldig, und eines Tages würde man das in einem neuen Prozess auch beweisen können. Daran glaubte sie felsenfest, und sie ließ sich auch nie darin beirren. Sie las in der Bibel, betete viel und redete oft mit ihrem Pastor.
Doch sie fragte sich, was das eigentlich für Leute waren, die das Gefängnis in McAlester leiteten.
Nach etwa einer Woche im Todestrakt ging Ron zu seiner Tür und grüßte den Mann in Zelle 9 auf der anderen Seite des Gangs, genau gegenüber, etwas mehr als dreieinhalb Meter von ihm entfernt. Greg Wilhoit grüßte zurück, und sie wechselten ein paar Worte. Keiner der beiden war sonderlich erpicht darauf, einlängeres Gespräch zu führen. Am nächsten Tag sagte Ron wieder Hallo, und sie unterhielten sich eine Weile. Am darauffolgenden Tag erwähnte Greg, dass er aus Tulsa kam. Ron hatte eine Weile dort gewohnt, bei einem Mann namens Stan Wilkins.
»Ist der Stahlarbeiter?«, fragte Greg.
Wilkins war tatsächlich Stahlarbeiter, und Greg kannte ihn. Es war ein amüsanter Zufall, der das Eis zwischen ihnen brach.
Greg war vierunddreißig Jahre alt, begeisterte sich für Baseball und hatte zwei Schwestern, die ihn unterstützen. Genau wie Ron.
Und er war unschuldig. Genau wie Ron.
Es war der Beginn einer engen Freundschaft, die den beiden half, ihre schwere Prüfung zu überstehen. Greg lud Ron ein, mit ihm zusammen an dem Gottesdienst teilzunehmen, der einmal in der Woche im
Weitere Kostenlose Bücher