Der gefrorene Rabbi
legte Rechnungen ab, inspizierte Kühlräume und Ausrüstung und verpflichtete Arbeiter mit dem Scharfsinn eines Kapitäns, der eine fähige Mannschaft für eine gefährliche Reise braucht. Außerdem ernannte er sich zum Betriebsobmann der von ihm gegründeten Gewerkschaft Ice Man’s Union (IMU) und wurde dadurch zur unentbehrlichen Kontaktperson zwischen Geschäftsführung und Arbeitern und zum Stachel im Fleisch seiner Chefs.
In stillen Momenten, von denen er in letzter Zeit immer weniger hatte, fragte Schmerl sich, ob das wirklich das Leben war, das er sich wünschte; war er ein Heuchler, weil er sich kopfüber in die Welt des freien Handels gestürzt hatte? Doch solche Fragen, so musste er bekennen, entstanden mehr aus der Macht der Gewohnheit als aus einer echten Bestürzung, da ihn das vollkommene Eintauchen in immer wieder wechselnde Angelegenheiten in einen andauernden leichten Rauschzustand versetzte. Außerdem freute es ihn, dass die geschäftliche Partnerschaft die Freundschaft zu Max noch zu vertiefen schien. Zwar wunderte er sich manchmal über die Unnahbarkeit und übertriebene Verschämtheit des jungerman - obwohl Schmerl mit gutem Beispiel voranging, weigerte sich Max zum Beispiel immer noch, öffentliche Bäder zu besuchen, und behalf sich stattdessen mit einem gelegentlichen siz-bod hinter einer Segeltuchplane im Schuppen -, doch das waren belanglose Unvollkommenheiten, die der ständig wachsenden Bewunderung des Erfinders für seinen Freund keinen Abbruch taten.
Aufgrund ihrer Arbeitsaufteilung waren sie nun allerdings weniger unzertrennlich als vor ihrer geschäftlichen Beziehung, und umso wichtiger war Schmerl die Zeit, die sie gemeinsam verbrachten. Manchmal aßen sie in einem Restaurant an der Grand Street (das konnten sie sich jetzt leisten) und begaben sich anschließend in eine Teestube am East Broadway, wo sich die Intelligenzija versammelte. Ein wenig fühlten sie sich wie kapitalistische Spione beim Kibitzen von Unterhaltungen über Kundgebungen, Streiks und die bevorstehende Revolution. Bei gelegentlichen Besuchen eines jiddischen Theaterstücks an der Second Avenue verfolgten sie, wie Mrs. Krantsfeld und der glotzäugige Ludwig Satz in Zolatarevskys Geld, Liebe und Reue in tiefste Verderbtheit versanken, und jubelten Boris Tomashevsky in Strumpfhosen zu, die seine Beine in Pellwürste verwandelten, während er in Alexander, Kronprinz von Jerusalem über die Bühne stolzierte. Einmal gönnten sie sich einen freien Tag und fuhren mit der New York & Sea Beach Line hinaus nach Coney Island, um den Elefanten zu sehen; sie ließen ihr Gewicht schätzen und sich von einer Zigeunerin die Zukunft voraussagen (die verwirrt schien von Max’ zarter Hand und beunruhigt von etwas, was sie bei Schmerl erblickte); sie erprobten ihre Kraft, aßen chaser und warfen Baseballs auf den Kopf eines Negers, ehe sie auf dem Iron Pier an schmusenden Paaren vorüberschlenderten.
Max neckte Schmerl, weil er nach den Mädchen schielte, die in ihren gewagten Kostümen in der Brandung tollten. »Vielleicht sind sie gezählt, deine Junggesellentage.« Doch kaum hatte er sich über seinen Freund lustig gemacht und dessen Verlegenheit registriert, lief Max selbst feuerrot an.
Am Vorabend der großen Wiedereröffnung des Ice Castle feierten die Partner bei einem Abendessen in Virág’s Hungarian Noodle Shop in einem Keller an der Forsyth Street. Im Grunde war ihr Geschäft schon angelaufen. Anzeigen in jiddischen und englischsprachigen Zeitungen hatten eine kleine Kontroverse ausgelöst, da mehrere traditionelle Eishäuser »künstliches« Eis in der Presse als gottlos verdammt hatten. Um diesen Angriffen zu begegnen, hatte sich Max ein geschicktes Manöver einfallen lassen und sowohl jüdische als auch nichtjüdische Geistliche dazu bewogen, sich für das Produkt von Feinschmeker & Karp auszusprechen. Dieser Zwist lenkte das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die Innovation des Ice Castle und erwies sich damit als nützliche Werbemasche. Schon lagen Bestellungen von mehreren Brauereien und Fleischereien vor; darüber hinaus hatten die alten Kunden der Gebirtigs ihre Verträge mit den neuen Besitzern verlängert. Die Gewölbe waren fast vollständig belegt mit verderblichen Gütern, sodass die offizielle Eröffnung des Werks ein wenig verspätet kam. Dennoch speisten die für den Anlass (in Kammgarn mit Nadelstreifen) sportlich herausgeputzten Freunde schtschawel und scharfes Gulasch und stießen mit süßem
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