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Der geheime Basar

Der geheime Basar

Titel: Der geheime Basar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ron Leshem
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neugierig um ihn. Wo waren ihre Eltern? Wo waren die Schwestern und ihr Bruder? Nicht da. Ein Kranwagen fuhr seinen langen Arm in den blauen Himmel aus, und wir warteten. Tödlich versteinert unter der Sonne.
    Nilufar wurde im Dschamschidieh-Park hingerichtet, an einem Kran vom Felsen über die Stadt gehängt, mit lichtlos verhülltem Körper und schwarz verdeckten Augen. In den letzten Augenblicken schien es, als lasse die Blindheit sie weniger am Leben festhalten. Es schien, als sei ihr loser Leib mager und kränklich, ein fragiles, zerbrochenes Skelett, an dem die Hände mit schamhaft gequälter Bewegung herabbaumelten. Ein dünnes schwarzes Stück Tuch wehte leicht im Himmel, und kein Lächeln lag auf ihren Lippen, es war traurig für sie zu gehen. Sie liebte das Leben, obwohl es vielleicht besser für sie gewesen wäre, sie hätte es nicht so sehr geliebt. Und ich betete für sie, dass es schnell zu Ende sein würde, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Es sei denn, sie wollte, dass es langsam zu Ende ginge, um noch ein paar Sekunden Leben zu atmen.
    Nilufar wurde hingerichtet wie in einem schäbigen Schmierenstück. Ohne Gefühlsausbrüche, mit Zuschauern, die von der Beiläufigkeit des Dramas enttäuscht waren. Kein Aufruhr. Nichts Besonderes, bloß ein gewöhnlicher leichter Wind, charakteristisch für die Berge, und die übliche dichte Lärmwolke, die von der Stadt unten aufstieg, die ihrem Leben nachging mit Ambulanzen, Gehupe, Motordröhnen. Nicht der stürmisch bewegende Tod eines Propheten oder Messias. Nur der Tod eines Mädchens, das etwas anderes war, das mein war. Hätten wir zusammen eine Viertelstunde vor dieser Einsamkeit gehabt, dann hätten wir Selbstmord begangen, lächelnd umarmt. Doch allein Selbstmord zu begehen, ist mir offenbar nicht gegeben. Also stand ich unter der Leiche, die von oben herabfiel, und wollte schreien, sie ist mein.
    Bin ich schuld? Ist es plausibel, dass ich schuld bin? Sehen alle in mir den Schuldigen? Ist meine Schuld geringfügig oder teilweise oder eine Schuld, ohne die das alles nicht passiert wäre? Und als Schuldiger, soll ich hingehen und bitten, dass man mich neben ihr aufhängt? Ist es mir, als Schuldigem, erlaubt, Angst zu haben, dass sie Namen preisgegeben hat und bald auch ich hier stehen werde? Vielleicht war eine Frau wie sie generell nicht dazu bestimmt, das Alter zu erreichen, redete ich mir ein. Vielleicht ist das ihre Geschichte. Und ich bemühte mich, die leuchtenden Erinnerungen zu verscheuchen. Wir beide am Strand des Kaspischen Meers. Ziehen uns aus und lachen. Es war zynisch, daran zu denken, wie glücklich und unschuldig wir waren. Und wie erhaben. Und nun, innerhalb eines Moments, waren wir nichts. Aber wie war das möglich? Wie war das passiert? Was war schiefgegangen? Ich betete darum, dass meine Sinne abstumpften. Dass die Soldaten stumm würden. Die Polizisten nicht mehr atmeten. Amir legte eine Hand auf meine Schulter, behütete mein Gleichgewicht, ein Kompass im Sturm. Und Frau Safureh schüttelte sanft ihr runzeliges Gesicht und sagte: «Wir sind Menschen, wir fallen manchmal, das ist Teil davon, zu fallen, lässt Allah denn nicht zu, dass die Menschen fallen?»
    «Gott möge dem Schah verzeihen», antwortet Zahra, «er war ein besserer Herrscher.» Sie wollte mich in die Arme nehmen, doch es war unmöglich, sich mitten im Park vor den Soldaten, Sittenpolizisten, Geheimagenten und freiwilligen Helfern der Revolution zu umarmen. «Es ist eine Schande, in dieser Zeit zu leben», sagte sie, danach räusperte sie sich. Ich legte mich würgend ins Gras. Hier im Park hatte mir Nilu in unserer ersten gemeinsamen Nacht die Hand auf den Oberschenkel gelegt. Einen Tag davor hatte sie mich auf der Treppe der Fakultät noch «Soheil» genannt, und plötzlich war sie fünfhundert Stufen mit mir den Berg hinaufgeklettert, bis hierher. Warum? Sie hatte sich an meinen Arm gehängt zwischen den schwarzen Felsen, ließ mich an alle Dinge denken, die ich keinesfalls tun durfte, um das, was zwischen uns begann, nicht zu zerstören. Müde Gitarren spielten für uns nach Mitternacht nahe dem kleinen Amphitheater. «Wonach strebst du, Nilufar Chalidian?», hatte ich gefragt. «Wenn du ins Bett gehst in der Nacht, bevor du einschläfst, was hast du vor Augen? Einen Mann? Kinder? Einen Bürojob? Was willst du eigentlich werden oder sein?»
    «Muss man das im Voraus entscheiden?», hatte sie gefragt.
    «Es muss nichts Spezifisches sein», hatte ich erklärt.

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