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Der geheime Basar

Der geheime Basar

Titel: Der geheime Basar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ron Leshem
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«Ich und mein bester Freund aus Anzali zum Beispiel haben beschlossen, Erfahrungssammler zu sein.»
    «Keine Zeit dazu», hatte sie erwidert, «die Erfahrungen muss man jetzt sammeln.»
    «Warum jetzt?», hatte ich mich gewundert. «Und was geschieht danach?»
    «Danach hinterlassen wir der Welt die schöne, sexy Erinnerung an uns und schließen uns ein», hatte sie gesagt. Und ich war erschrocken. Sie spürte es und lachte. «Chosch baschi! Be happy!» Und ihr Akzent klang nach Hollywood. «Zu viel Sauerstoff hier oben», hatte sie sich beschwert, worauf wir gingen.
    Amir setzte sich neben mich auf den Rasen, ergriff meine Hand und drückte sie fest, und ich sagte zu ihm: «Pass nur auf, gleich hängen sie uns auch auf.» Und er schloss die Augen und biss sich auf die Lippe, legte sich zurück, drückte seine Wange ins Gras und schwieg. Ich machte auch die Augen zu. Ich stellte mir ein Erdbeben vor, ein globales, es liegt ein gewisser Trost darin, sich endlose Zerstörung auszumalen, Berge von zerschmettertem Beton, menschenverlassene Städte, eingebrochene Brücken, Totenstille. Ich liege auf den Trümmern, ein erbärmliches Häufchen Überlebender ist in der Ferne verstreut, die Luft besudelt von Staub und sich ankündigendem Leichengestank. Will ich aufstehen? Will ich auf meinen Beinen stehen und auf eine kühle Brise warten, atmen, mich neu aufbauen? Nein. Ich betete darum, dass ich wollte, doch ich wollte nicht. Ich wollte, dass ihr schlaffer Körper herabgeworfen und auf mich fallen würde. Ich machte ihre Finger aus, die am Himmel herauslugten, die Finger, die mir den Hals gestreichelt hatten, die Brustwarzen und den Bauch, die bald erkalten, nie wieder warm werden würden. Wie erleichternd wäre es für mich gewesen, wenn ich geglaubt hätte, dass etwas dort auf sie wartet, wenn ich gewusst hätte, dass sie etwas sieht, einen weißen Korridor von Leben vielleicht durch den schwarzen Stoff hindurch, der sie in der Sonne verschmoren ließ.
    Ich lag da, rettungslos, und hoffte, sterben zu wollen.
    Einen Moment, bevor sich alles zerstreute, wollte Zahra trotz allem eine Zeremonie. Sie führte uns ans Ufer des künstlichen Sees, und wir versammelten uns um sie auf den nachgemachten Antiksteinplatten. Sie zog einen kleinen Zettel aus ihrer schwarzen Ledertasche und las vor. Es waren Verse von Firdausi:
    «Es schliff dies Weltjuwel ein Meister ohnegleichen,
    den Name, Zeichen und Gedanken nicht erreichen,
    zu dem des Menschen Wähnen nimmer sich erhebt,
    und dessen Hoheit über allen Thronen schwebt.
    Des Menschen Weisheit kann sein Wesen nicht benennen,
    denn wir benennen nur die Dinge, die wir kennen.
    Und selbst, wer Worte schleifen kann wie ein Juwel,
    der mühe sich nicht ab, sein Mühen schlägt doch fehl.»
    «Die Welt ist jetzt kleiner, salam und auf Wiedersehen», so pflegte Herr Ali Samimi zu sagen, wenn jemand starb. Nehmen wir mal an, man teilte ihm mit, Allah erbarme sich, der arme Herr Behram vom Pistazienstand ist bei einem Bootsunfall von uns gegangen, so sagte er, einen warmen Gruß an Allah, ama-to gaidam, fick deine Tante, und das half ihm, das Ganze leichter zu nehmen. Obwohl er auf dem Markt arbeitete, verfluchte Ali Samimi niemals Familienangehörige – außer bei Todesfällen. Es gab Samstage, an denen sich über einen halben Meter Schnee auftürmte und es uns nur mit Mühe gelang, die Hütte zu erreichen. Herr Ali Samimi hatte es nicht gern, wenn der Markt geschlossen war, er mochte den Winter nicht. Dann kamen wir zu ihm und spielten mit ihm Dame. Unser Volk ist das beste auf der Welt im Damespiel. Auch im Backgammon sind wir nicht übel. Als wir im letzten Winter an einem Morgen ankamen, sagte Herr Ali Samimi: «In Bälde, Kinder, könnt auch ihr meine Tante verfluchen, meine Zeit ist gekommen, chalas.» Amir fing zu weinen an. Ali Samimi strich ihm über den Kopf und sagte zu ihm: «Wieso denn Tränen, Kinder, keine Sorge, das ist gut, das ist ganz ausgezeichnet, sowohl für mich als auch für die Welt», und es lag nicht der leiseste Anflug von Lüge oder Zweifel in seinem Gesicht. Ich musterte ihn mit interessiertem Misstrauen, denn ich dachte, dass eine solch totale Akzeptanz, die ihren Ursprung in absolutem Glauben hat, Neid und Befremden auslöst, und ich hatte keine Ahnung, ob man sich fragen sollte, woher die Kraft stammte oder die Schwäche, die ihn dazu brachte, sich an eine solche Hinnahme zu klammern. Amir weinte, und ich freute mich, dass er der Schwache in unserem Bund

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