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Der geheime Basar

Der geheime Basar

Titel: Der geheime Basar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ron Leshem
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blieben allein zurück. Um halb eins in der Nacht gab es kein Brennholz mehr für das Lagerfeuer, doch den Mond gab es. Und durch das offene Fenster des Peykan verlautbarte das alte Radio Nachrichten. Ob wohl wirklich extraterrestrische Raumschiffe am Himmel über der Stadt Rascht in der Provinz Gilan gesichtet wurden? Der Bäckereibesitzer und seine Frau berichteten gegen Abend von Außerirdischen mit großen Katzenaugen, die unschuldige Bürger betäubten, verschleppten und einer intensiven körperlichen Untersuchung unterzogen. «Im Rahmen der Bemühungen, Dienstleistungen und Ansprache für die Bevölkerung zu verbessern, sind die Bürger der Islamischen Republik ab sofort eingeladen, sich direkt an das Büro des Präsidenten der Republik zu wenden und Textnachrichten über Mobiltelefone oder E-Mails zu schicken. Oder weiterhin die Nummer 111 zu wählen, wie es bisher bereits Usus war», hieß es. «Und nun zu einer guten Nachricht – ein parlamentarischer Sonderuntersuchungsausschuss hat alle Zeichentrickfilme, die im Verdacht stehen, imperialistische, homosexuelle oder alkoholistische Tendenzen einzuschleusen, für ungesetzlich erklärt.»
    «Erinnerst du dich an den japanischen Jungen?», fragte ich.
    «Er war Italiener», erwiderte Amir.
    «Meine halbe Kindheit war ich völlig fasziniert von ihm. Marco, der seine Mutter suchte, die nach Argentinien zum Arbeiten gegangen war. Weißt du noch? Und Pinocchio, und der kleine Nils, dieser dumme schwedische Junge, der sich in einen Zwerg verwandelt und es mit den Wildgänsen zu tun kriegt? Und die tschechischen Puppen, Pat und Mat, die zusammen wohnten, die beiden waren garantiert schwul, sie waren ja keine Brüder, was waren sie also sonst? Der oberste Führer würde sie aufhängen. Und Hannah, das Mädchen auf dem Bauernhof. Und Inspektor Gadget. Es war zu schnell vorbei für uns.»
    «Das wird heute schon nicht mehr angeschaut», erwiderte Amir, «heute sind die Zeichentrickserien pädagogisch. Über diesen Jungen von den Basidschis, Hussein Fahmida, der erste Selbstmordmärtyrer der modernen Geschichte. Dreizehn war er, die Welt wird sich noch lang nach uns allen an ihn erinnern, sogar nach Zahra Chazuri und nach Ahmadinedschad.»
    Es war nett, dass Amir mich provozierte und auch sich selbst. Wir waren noch immer wir. Wie früher, wir hatten nichts eingebüßt. Ich blickte in seine Augen, tief, hinter der dünnen, verbogenen Brille. «Duste-man, mein Freund, wie soll ich mich mit allem, was passiert ist, abfinden?» Ich fragte ohne Polemik, ich wollte wirklich Trost finden in irgendeiner Bedeutung, die diese bitteren Dinge, die geschehen waren, vielleicht haben mochten. «Schau, jetzt höre ich zu, ich will zuhören.»
    In Anzali überprüfte ich oft, wie verschieden wir waren, Amir und ich, wer der Stärkere von uns beiden war. Er hatte fünf Brüder und sieben Schwestern, ich nur zwei Brüder und eine Schwester. Die Liebe in meiner Familie war auf weniger Personen verteilt, umarmte und stärkte mich, so dachte ich immer. Meine Familie hatte zwei Großelternpaare, ein größeres Haus und zwei Autos, Amir nicht. Abgesehen von der Familie, was hatte er überhaupt? Fast niemand in Anzali kannte ihn, bemerkte seine Existenz überhaupt. Er hatte ein Gesicht, das keine Neugier erweckte. Wenn wir nicht für ihn da wären, ich und die Familie, wie sollte er jemanden finden, der den Mangel ausfüllte? Er brauchte mich, er hatte Angst, mich zu verlieren, er war abhängiger von mir als ich von ihm. Das war ein Trost. Doch wenn Amir so abhängig war, mich so sehr brauchte, wie war es passiert, dass wir uns auseinanderdividiert hatten, und wie kam es, dass ich nun hier mit ihm auf einem Entwöhnungstrip war, dass ich davon abhängig geworden war, dass er auf mich aufpasste? Was hatte ihn plötzlich zum Stärkeren von uns beiden gemacht?
    Er brühte Kaffee auf. Zog süße Datteln aus seiner Tasche, die wir in der Provinz Sistan gesammelt hatten. Legte das Damebrett auf den Sand. Und verteilte die roten und weißen Spielfiguren auf dem starren Spielkarton.
    Ich sagte: «Hilf mir. Babak ist ausgelöscht. Verschwunden. Nicht die Erde hat ihn verschluckt. Und trotzdem werden wir nie etwas erfahren. Ein Mensch hat es nicht verdient, ausgelöscht zu werden, ohne dass wir jemals irgendetwas wissen werden. Was hast du zu sagen? Wirst du sagen, dass Babak ein Ungläubiger, ein Sünder war? Sagen, dass Babak krank war? Haben Triebe, Gefühle in deinen Augen keinerlei Wert? Triebe

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