Der geheime Basar
Kindheitserinnerung, die früheste.»
«Du hast echt ein Talent, mich in finstere Gedanken zu stürzen», beschwerte ich mich.
«Das macht nichts, traurig ist doch romantisch.»
«Natürlich entsinne ich mich meiner frühesten Erinnerung. Sechs Uhr morgens, Mama und Papa wecken mich, beide zusammen. Eine seltsame Empfindung, denn ich wachte sonst immer allein auf. Draußen liegt Schnee. Ich bin fünfeinhalb Jahre alt. Jenseits der Zimmertür bemerke ich einen schwarzen Koffer, der in der Mitte des Wohnzimmers steht, ein darübergeworfener Haufen Mäntel und daneben meine Brüder und meine Schwester, in Festtagskleidern. Ich habe Angst, dass sie weglaufen, alle. Mama setzt sich auf das Bett und bittet mich, mich auch hinzusetzen. Sie sagt: Onkel Arian ist gestorben. Wer ist Onkel Arian?, frage ich. Er war ein Kriegsheld, wir sind alle sehr stolz auf ihn. Jetzt müssen die Großen zum Begräbnis fahren, zu der Zeremonie, zum Abschiednehmen, ich habe keine Ahnung, wie sie das ausdrückte, ich erinnere mich nur, wie sie sagte: Kami, Militärbegräbnisse sind nichts für Kinder, du bleibst bei Helia Teimuri, der Nachbarin, die mit mir zusammen arbeitet. Helia wartet schon draußen. Mama zieht mir den Pyjama aus, steckt mich in einen kratzenden Wollpullover. Keine Angst, sagt sie ungeduldig, du wirst es nett haben. Meine Brüder sehen aufgeregt aus, erwartungsfroh. Sie streiten sich um die Sitzplätze im Auto, danach knallen sie mit den Türen, und ich stehe allein da, schaue und denke, dass tote Menschen anscheinend mehr Liebe verdienen und dass mich Mama vor lauter Trauer um Arian jetzt weniger liebt. Ein langer Vormittag verstreicht, und Mama ist noch nicht zurück. Ich erinnere mich, wie ich im Garten herumstreiche und versuche auszurechnen, wie viele Stunden oder Tage sie brauchen wird, um zurückzukommen. Ich lege mich in den Sandkasten, niemand fragt, ob alles in Ordnung sei. Alle behaupten, dass sie einen Onkel haben, der getötet wurde, dass der ein Held war. Wer würde mir glauben? Es ist mir peinlich, dass ein Onkel von mir, den ich überhaupt nicht gekannt habe, getötet wurde. Am Nachmittag bin ich auf dem Spielplatz, Helia hat ihren Sohn Amir gebeten, mich zu beschäftigen. Amir versucht mich aufzumuntern, sagt, dass auch er im Krieg getötet werden würde, wenn er groß wäre, das sei gut, das würde allen Guten passieren. Und ich frage: Wie kommt es, dass unsere Väter nicht getötet worden sind? Vielleicht ist etwas nicht in Ordnung mit ihnen? Helia richtet mir ein Bett in Amirs Zimmer her, und ich traue mich nicht, auf die Toilette zu gehen. Das Essen schmeckt mir nicht, und die Zimmer riechen komisch. Das ist, woran ich mich erinnere.»
Nilu hörte mit interessierten Atemzügen zu und sagte dann: «Irgendetwas passt da nicht zusammen. Wenn du fünfeinhalb warst, dann ist Arian nicht im Krieg gestorben. Der Krieg war viel früher zu Ende.»
Ich rechnete selbst nach. Es stimmte wirklich nicht. Seltsam. Der Krieg endete 1988, wie konnte es sein, dass ich so blöd war, diese Ungereimtheit nie zu bemerken? «Da, jetzt wird mich heute Nacht noch was quälen, nur wegen dir», sagte ich zu ihr. Und sie lachte: «Mein armer Gepeinigter!»
«Vielleicht ist es ein Familiengeheimnis», begeisterte sie sich, «vielleicht ist es zu heikel? Vielleicht fragst du mal Amir? Seid ihr in Kontakt?»
«Ja, er ist mein bester Freund, Amir Teimuri. Er ist nur ein bisschen religiös zurzeit.»
«Das ist merkwürdig.»
«Warum merkwürdig?»
«Bloß so, eben merkwürdig.»
«Kann ich keine Freunde haben, die ein bisschen religiös sind?»
«Einen besten Freund, der an all das glaubt, was das genaue Gegenteil von dem ist, woran du glaubst? Ich weiß nicht, irgendwie kompliziert.»
«Er probiert es nur aus, das ist vorübergehend», entschuldigte ich mich. «Und du, woran glaubst du? Kein Gott, kein Allah?»
Sie lachte. «Kein Allah, keine Gesetze, nur die, die du dir selbst schaffst.»
«Extrem.»
«Was habt ihr denn immer zusammen gemacht, du und dein kleiner Mullah?»
Schwierige Frage. Ich dachte nach, schwankte, wie sollte man das beschreiben? Wir sind auf die gelben Kräne geklettert. Auf den Leuchtturm. Auf einmal klang die ganze Geschichte dumm. Wir haben Hühner gefangen, die samstags auf dem Markt herumrasten, und wir haben immer die Möwen gefüttert, wir sind mit Amirs Vater auf dem knatternden Traktor direkt bis ins Wasser gefahren. Wir hatten ein Pferdchen, das gestorben ist, wir haben es im Schlamm
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