Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der geheime Basar

Der geheime Basar

Titel: Der geheime Basar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ron Leshem
Vom Netzwerk:
versuchte schnell nachzudenken, nein, ich erinnerte mich an keine Kettenmorde, doch ich war nicht bereit, dass sich ein spitzfindiger kleiner Klugscheißer aus dem Fenster hängte, um mich vor meinem Mädchen in Verlegenheit zu bringen, und die Luft mit seinem Pessimismus verpesten würde.
    «Schriftsteller. Dichter. Journalisten. Redakteure. Übersetzer. Aktivisten, irgendwelche Linke. Messerstiche in die Brust, Verkehrsunfälle, inszenierter Raubmord, Injektionen mit einer Kaliumverbindung, um einen Herzinfarkt vorzutäuschen. Eine stille, elegante Säuberungsoperation des Informations- und Sicherheitsministeriums, eine ungestörte Massenexekution aller, die Kritik übten. Wenn du ein Schriftsteller oder ein Liberaler warst in jenen Tagen», stellte er dramatisch fest, «lauerten dir die Geier an der Straßenecke auf, du wusstest, dass sie auch dich irgendwann erlegen würden. Bist du in der Lage, dir dieses Gefühl vorzustellen?», fragte er, und als er mir die Angst schilderte und mir sein zorniges Augenpaar näherte, schien es, als sei etwas in ihm erwacht, als sei es in seinen Augen etwas Gutes, auf der Flucht vor dem Geier zu leben, auf geborgte Zeit, zu wissen, dass man eigentlich geschlagen war. «Das ist es, zehn Jahre seit den Kettenmorden», schloss er, «das ist bekannt.»
    «Wem bekannt?», fragte ich, bereits versöhnt, denn ich bemerkte, dass ich keine Verachtung mehr für ihn verspürte. Was für ein gejagter und einsamer Junge, dachte ich nur noch, du meine Güte.
    «Dir ist es offenbar nicht bekannt», murmelte er. «Regierungen werden es immer tun, und die Bürger werden sich immer bemühen, nichts davon zu wissen», stellte er fest, «das ist in Ordnung, du hast es vorgezogen, nichts zu wissen, ich verurteile niemanden. Frag dich nur bei Gelegenheit mal selber, wo du warst.» Schalkhaft rollte er sich auf den Rücken, sicher litt er an Komplexen, redete bloß Unsinn wie Amir und ich, als wir nach Raumschiffen suchten. Nur waren die Raumschiffe bei Muhammad schwarz, und es schien, als sei ihm das lieber. «Hast du irgendeinen Zweifel daran, dass die Welt in den Händen der Barbaren untergehen wird?», fragte er. Doch an dem Punkt signalisierte Nilu, dass sie keine Geduld hatte, sich kindische philosophische Diskussionen anzuhören. Wir traten alle drei auf die Gasse, passierten einen Straßenhändler, der vielleicht gerade mal sechs war und verbotene Poster von David und Victoria Beckham anbot, während er Geige spielte. Wir gingen weiter zu einem Sexshop, als Souvenirladen getarnt, in den man durch einen verborgenen Raum schlüpfte, den man hinter einem rosa Vorhang auf der Rückseite einer Umkleidekabine betrat. Nilu küsste mich, denn ich war ruhelos. «Hier ist die Freiheit, die dir niemand nehmen wird, mein Tschutschu», flüsterte sie mit einem hungrigen Lächeln. «Ich werde mit dir Liebe machen, auch wenn die ganze Welt Bücher in Abwasserkanälen verkaufen muss», versicherte sie in einer Lautstärke, dass Muhammad es hörte. Er zwinkerte ihr zufrieden zu. Sie streckte die Hand aus und zog ein Aphrodisiakum aus dem Regal, das in einem harmlosen Testfläschchen mit der Aufschrift «Säuberungslösung für Videogeräte» verkauft wurde. Muhammad schnappte danach, entfernte den Verschluss und zwang uns, daran zu riechen. Ich sog die scharfe Wolke ein, meine Nasenwände brannten und kitzelten. Doch es machte mich nicht scharf. «Das pumpt dir Ströme durchs Gehirn», versprach Muhammad, «schießt dich zu den Sternen, aber noch besser ist es mit Alkohol.» Und dann schnüffelte er selbst daran. Die schmalen Regalbretter an den Wänden um uns waren mit Videokassetten, Unterwäsche und Gummi- oder Plastikpenissen bepackt. «Nun», sagte Muhammad, zufrieden mit sich, «in Amerika zum Beispiel ist es verboten, Vibratoren zu verkaufen, in Massachusetts, Virginia, Mississippi, Louisiana, Indiana, in einer Menge Staaten, so aufgeklärt ist diese Welt von dir.»
    Worauf ich fragte: «Was ist an einem Vibrator aufgeklärt?»
    «Die Freiheit», antwortete er. Und ich verstand nicht, für wen oder was er eigentlich war.
     
    In der Nacht blieb ich allein in meinem Bett, und die Wohnung war still, ein schwaches Pfeifen von Leere. Hin und wieder ein Klopfen oder Knarzen, von den Holzbalken, vom Kühlschrank, vom Dach. Warum wird hier an der Vergangenheit festgehalten? Weil es damals Hoffnung gab und jetzt keine? Nein, wieso denn Hoffnung – wann gab es überhaupt je Hoffnung? Vielleicht für ein paar

Weitere Kostenlose Bücher