Der geheime Basar
Verhörston. «Sind Sie ein religiöser Mensch? Sind Sie gläubig? Sind Sie ein Soldat?»
«Ja, gnädige Frau», antwortete er, ohne zu zögern.
«Seltsam.»
Zahra mischte sich abrupt von der Seite aus ein: «Das ist überhaupt nicht seltsam, ich bin zwar weder religiös noch gläubig, aber Sie sind ein bezaubernder Junge, Schnecke.»
«Vielen Dank.»
«Lieben Sie die Religion?» Frau Safureh gab nicht nach.
«Ja, das tu ich.»
«Und die religiöse Führung?»
«Respektiere ich.»
Alle wollten wir losbrüllen, was machst du dann hier? Doch wir beherrschten uns, wechselten nur verblüffte Blicke.
«Dreißigtausend Menschen sterben täglich in dieser Welt an Hunger», sagte Schnecke. «Ist ein Staat, in dem alle ein Zuhause und Essen auf dem Tisch haben und das Recht, an der Universität zu studieren, der allerdings strenge Grenzen und Gesetze hat, also weniger gut als ein Staat, in dem bestimmte Menschen mehr haben, als sie brauchen, und andere hungern, ohne jede Chance auf Bildung, denen es aber scheint, als seien sie frei?»
«Schau dir an, wie viel Armut es bei uns gibt», entgegnete ich vorsichtig, «die offenen Kloaken fließen durch die Gassen der Dörfer.»
«Ich habe nicht gesagt, dass alles hier gut ist», Schnecke schnitt mir das Wort ab, «aber wir müssen entscheiden, wonach wir streben. Der Westen ist keine Lösung für unsere Notlage, er hat sie verursacht. Wir sind ihm gefolgt, wir haben es versucht. Hundertfünfzig Jahre lang hat man uns gepredigt, dass wir ihn imitieren sollen, uns alle danach sehnen müssen, ihm nacheifern. Also sehnten wir uns. Und er kam. Erniedrigung. Beraubung. Ausbeutung. Unterdrückung. Man machte uns zu Dienern und Sklaven. Fahr in den Westen, Kami, kleide dich westlich, rede westlich – dann wirst du entdecken, dass sie in dir nie einen von sich sehen werden, du wirst immer minderwertig und ein Fremder bleiben.»
Wir erstarrten alle. Er hörte sich nicht danach an, als bete er etwas nach, er klang echt. Aber welcher Autoelektriker redet so? Verdächtig. Wir starrten ihn aus großen Augen an. Fast schien es, als wäre sogar er erschrocken über seine flammende Rede, und er füllte sich hastig den Teller. «Die Menschen brauchen Wurzeln, das ist alles», murmelte er, und sein Blick flackerte durch den Raum, prüfte die Reaktionen.
«Wurzeln, mein junger Freund», erwiderte ihm Frau Safureh, «sind eine Quelle für potenziellen Rassismus, Hass und Chauvinismus.»
«Die Menschen sind die Quelle für potenziellen Rassismus und Hass», verbesserte er sie, «die Religion versucht, sie auf dem rechten Weg zu halten, Bescheidenheit und Werte. Ich habe sie mir nicht ausgesucht, aber sie ist meine Identität, und mir ist wohl dabei, dass sie über mich wacht.»
«Bei mir ist die Identität persisch», sagte ich, «das ist unsere Vergangenheit, egal, welcher Eroberer hier durchkam, wir sind immer Perser geblieben, mit einem persischen Kalender und persischen Festen, mit Gebräuchen und Sprache. Das Reich der Achaimeniden, der Seldschuken, der Parther und der Sassaniden, die Muslime, die Mongolen, die Dynastien der Safawiden, Kadscharen und Turkmenen, die Briten, die Russen, die Pahlavis, alle waren sie da, aber das Volk hat sich immer daran erinnert, dass sie Perser sind. Und jetzt versuchen die Mullahs, uns die Vergangenheit zu stehlen. Von heute an sage ich ‹durud› statt ‹salam›. Damit es alle merken. Ich bin Perser, wir müssen alle Perser sein.»
«Sei bloß vorsichtig», spöttelte Babak, «das ist sehr literarisch, du klingst schon wieder schwul.» In seiner Bedrängnis bettelte er um ein wenig Humor, der die Stimmung retten würde.
«Literarisch ist schwul?», erkundigte ich mich.
«Nun ja, so kokettierend, so geziert. Sag lieber ‹salam›.»
«Lasst doch dieses ganze Traditionsthema», griff Nilu ein, «das bringt nur Ärger. Ich ziehe es vor, eine Weltbürgerin zu sein, die in Teheran wohnt.»
«Ich werde mit dir demonstrieren», versprach Babak und brachte damit die Diskussion wieder auf Autorennen. «Gib nicht nach, Nilufar», sagte er, und ich war beunruhigt. Wie kam der Idiot dazu, seine Beziehung mit Schnecke zu gefährden? Es wäre schade drum.
Frau Safurehs Wangen röteten sich, auch ihre Nasenflügel. «Werdet endlich erwachsen», echauffierte sie sich, «Demonstrationen bringen nichts als Katastrophen. Das ist verantwortungslos! Ich verbiete es euch!» Ihr greiser Atem klang rasselnd – und ich dachte mir, ganz ohne Zweifel, da
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