Der geheime Basar
grauenhafte Schreie der Mutter. Schaida setzt ihren Weg fort. Geht langsam, schleppend. Hinter ihr sind keine Hunde mehr. Der Weg ist lang.
Eine Flussfahrt.
Ein armseliges Dorf. Verlassene Häuser, aufgegebene Läden. Verwaiste Fuhrwerke. Rätselhafte Stille. Peitschender Regen geht in milden Regen über. Schaida läuft die Hauptstraße entlang.
Ein Anwesen. Ein windschiefes, offenes Holztor. Versiegte Springbrunnen, ein ausgetrocknetes Wasserbecken. Doch ein gesundes, saftig grünes Weinspalier, ringsherum Weinberge. Die klobige Eingangstür weit aufgerissen. Drinnen ein heruntergekommener Vorraum, ein ganzer Baum wächst in der Mitte, erhebt sich aus einer Erdmulde an einer Stelle, an der Fliesen fehlen. Auf einem Korbschaukelstuhl eine betagte Frau. Russischer Akzent. Weißes Haar, lang und weich. Ein luftiger Kittel. «Hab keine Angst, mein Mädchen. Ich war Kriegsberichterstatterin, nach den Kriegen habe ich mich hier niedergelassen, ich wollte nicht nach St. Petersburg zurück. Ich habe alles, ich habe Ruhe.»
Sie zieht Schaida ins Bad. Desinfiziert ihre Wunden und Kratzer, zieht ihr alle Kleider aus, wäscht sie. Das Mädchen überlässt sich ihr, matt und erschöpft. Noch immer geführt von der alten Frau, schlüpft sie unter ein transparentweißes Laken, legt sich in einem eigenen hellen, geräumigen Zimmer schlafen. «Keine Sorge», verspricht ihr die alte Frau, «der Mensch ist stark genug, um aus der Gosse zu klettern, zu der ihn das Leben verurteilt hat.» Das Mädchen schläft ein.
Ein Morgen auf dem Hof. Ein einziges, hinkendes Huhn. Ein Ochse und eine Kuh, ausgemergelt, vielleicht krank. Ein Beet mit Tomaten, alte Orangenbäume. Schaida schaut aus dem Fenster in die ausgebreitete Landschaft. Sonne und Donner. Sie wandert durch lange Korridore, verliert die Orientierung. Einen Moment glänzendes, engelhaftes Weiß, im nächsten Moment düstere Finsternis, kein Ausgang, Treppen führen hinauf und hinunter ins Nirgendwo. Ihr scheint, sie verliert sich im Kreis. «Frau Christine», ruft sie, aber mit leiser, vorsichtiger Stimme. «Frau Christine? Sind Sie da?»
Das Ende eines Korridors, die Bogenfenster mit Läden verschlossen und verriegelt, nur durch eine kleine Öffnung schimmert heller Schein, wie Engelslicht. Schaida, eingehüllt in das weiße Laken, nähert sich mit stolpernden Schritten, gleich einer Jungfrau, die ehrfürchtig zum Tempel des Lebens schreitet, nur ist sie keine Jungfrau, und die Russin bereits tot, liegt dort schlaff wie eine Puppe, die Hände herabgesunken, die Augen geschlossen, sie ist im Reinen mit sich gestorben, in glücklicher Ergebenheit.
Das Mädchen fasst nach der willenlosen Hand, ergreift sie fest, drückt sie, prüft den Puls, bricht in Tränen aus. Sie trauert. Ihr Kopf fällt auf den mageren Bauch der guten Seele, Tränen echten Kummers, Trauerklage, sie sinkt auf die Knie, kauert sich zusammen.
Der Hof. Hinter dem Beet gräbt Schaida eine Grube. Ihr Gesicht ist nüchtern und entschlossen. Tief genug. Sie geht zur Veranda, wo die Leiche liegt, packt die zwei leichten Beine, zieht. Der Kittel und das weiße Haar werden vom dicken Morast beschmutzt. Auch Schaidas Beine sind mit nasser Erde verschmiert, das Laken bleibt jedoch weiß. Sie streift den Kittel vom Körper der Alten, schubst die entblößte Leiche in den kleinen, engen Raum, nimmt wieder den Spaten zur Hand, bedeckt sie mit Erde. Löst eine Duftgeranie aus einem Tontopf, dann noch eine und eine dritte, legt sie nieder, überhäufelt sie und tritt sie fest. Hier wird Leben wachsen.
Eine Dusche. Sie wäscht den Kittel, reibt ihn mit grober Seife. Sie ist nackt. Teile des Mädchenkörpers offenbaren sich verschwommen in den Dämpfen. Warme Wasserströme gleiten über ihr Schamhaar hinab. Ihre Augen sind geschlossen. Sie denkt nach.
Sie ist in der Küche. Barfuß. In dem Kittel. Er gehört jetzt ihr. Sie bäckt Nane lawasch. Rollt den Teig aus. Streut Mohn darüber, der in einem Glastiegel aufbewahrt ist. Schiebt das Brot in den Ofen. Wartet. Isst. Sie isst ohne jede Anmut, sie ist ein unerzogenes Tier.
Christines Zimmer. Schaida zieht die Bettlaken ab. Lüftet die Matratze. Scheuert den Boden, poliert die Fenster.
Dunkelheit. Ein fensterloser Raum. Sie entzündet einen Docht, eine Öllampe aus Bronze. Ein Lager voll mit guten Dingen, Konservenbüchsen, aufgereiht wie Soldaten vor der Schlacht, Flaschen und Pulver, Gewürze und Reissäcke. Samen. Knollen.
Ein Kutschengespann galoppiert auf
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