Der geheime Name: Roman (German Edition)
ist interessant, dass sie ausgerechnet von der Liebe einer Mutter spricht.« Er kniff seine Augen zusammen. »Hat sie gewusst, wer ihren Mora als Baby zu ihm brachte?«
Fina hielt inne. Das rasende Gefühl zog sich jaulend zurück.
Triumph glühte in seinen Augen. »Ihre eigene Mutter war es. Sie hat ihm das falsche Baby überreicht.«
Fina schnappte nach Luft. »Du lügst!«
Der Geheime ließ sein spöttisches Lachen durch die Goldkammer klirren, hörte nicht wieder auf, bis sie wusste, dass er recht hatte. Sie erinnerte sich an ihre Mutter, wie sie zu ihr ins Turmzimmer geschlüpft war und nach dem schwarzhaarigen Jungen gefragt hatte. Fina hatte sie belogen, hatte Mora mit einer dreckigen Kanalratte verglichen.
Plötzlich begriff sie, warum ihre Mutter heulend aus dem Zimmer gelaufen war – nicht, weil sie Mora in ihren Träumen gesehen hatte, nein, auch damit hatte ihre Mutter gelogen. Sie heulte, weil sie Mora ausgeliefert hatte, ein kleines unschuldiges Baby, das Kind einer anderen Mutter …
Zum ersten Mal fügte sich die Geschichte zu einem schlüssigen Bild zusammen: Susannes Reaktion an der Ampel in Siena, die fünfzig Euro, die sie dem braunhäutigen Jungen durch das Fenster gereicht hatte, und die Tränen auf ihrem Gesicht.
Woher auch immer sie Mora bekommen, genommen oder gestohlen hatte – er war ein Roma, wie diese Jugendlichen an der Ampel.
Finas Blick glitt zu Moras Käfig, auf seinen reglosen, blutverschmierten Körper. Ihre eigene Mutter hatte ihn auf dem Gewissen – im Austausch für das Leben ihrer Tochter.
Sie taumelte zurück, fiel gegen das Gitter und sackte daran zu Boden. Ihre Hand berührte etwas Kaltes, ließ sie zusammenzucken.
Sie war nicht allein in dem Käfig! Neben ihr lag ein Mädchen, kaum älter als dreizehn oder vierzehn, mit einem hübschen Gesicht und langen goldenen Haaren. Doch nicht nur ihre Haare waren aus Gold. Ihr ganzer Körper war zu Gold versteinert.
Fina wich zur Seite, drückte sich an das Gitter und klammerte die Arme um ihren Körper.
»Oh!« Der Geheime trat zu dem goldenen Mädchen, blinzelte auf sie hinab. »Sie hat ihre neue Freundin entdeckt. Sie ist schön, nicht wahr? Ein vollkommenes Kunstwerk.«
Finas Atem flatterte. Das also war es, was ihr bevorstand, zu einem vollkommenen Kunstwerk zu werden.
»O nein. Sie versteht ihn ganz falsch«, säuselte der Geheime. »Er hat sich schon so oft eine Braut gewünscht. Aber die Menschenweibchen wollten ihn nie. Gewehrt und gewunden haben sie sich – bis seine Wut ihre Körper verwandelt hat.« Er hielt ihr seine Hand entgegen, ließ seinen zweiten Daumen aufglühen. »So viele Mädchen waren es. So schöne Mädchen. Ein Jammer. Dabei hätten sie nur stillhalten müssen, hätten ihm besser geben sollen, was er sich wünschte.«
Finas Blick glitt an dem Alten vorbei, durchdrang das Zwielicht der Höhle und stieß auf das, was in den Ecken lauerte. Ganz hinten an der Höhlenwand lag ein Mädchen neben dem anderen, manche aus Gold, andere zerfielen bereits zu Salz. Sie fingen an, sich zu bewegen.
Fina blinzelte, bemerkte, wie sich auch das Mädchen neben ihr bewegte. Sie schüttelte den Kopf, versuchte, die Müdigkeit endlich loszuwerden.
»Oh, keine Angst.« Der Geheime kicherte. »Es ist lange her. Er hat inzwischen gelernt, sich besser zu beherrschen. Mit ihr wird er nur ein Kind zeugen.«
Seine Worte detonierten in ihrem Kopf, hinterließen eine Wolke aus weißen Sternchen, ein strukturloses Nichts, das ihr jeden Gedanken ersparte.
Bis seine Stimme sie daraus hervorholte: »Soll er ihr etwas verraten? Ihre Mutter hat einen Fehler begangen. Sie hätte ihm ihre Tochter überlassen sollen, als kleines, unschuldiges Baby. Dann hätte die kleine Fina nie etwas Schlimmes an ihm gefunden. Er wäre gut zu ihr gewesen, und sie hätte ihn geliebt. So sind die Menschenkinder, hat sie das gewusst? Selbst Morasal hat ihn geliebt, o ja. Sie hätte den kleinen Mora sehen sollen, wie das Kind ihm nachgelaufen ist, wie es ihm gefallen wollte. So lange Zeit haben seine Schläge gebraucht, um Morasals Liebe zu brechen. Bis zum Schluss war sie nicht ganz verschwunden.«
Die Stäbe des Gitterkäfigs verschwammen vor Finas Augen, ihre Zähne schlugen aufeinander. Erst jetzt bemerkte sie, wie sich ihr Körper unter seinen Worten schüttelte. Sie wollte Moras Bild festhalten, wollte das verlorene Kind zurückholen …
»Wie sehr muss dann erst ein Kind lieben, das zurückgeliebt wird.« Der Geheime schnurrte
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