Der geheime Vortrupp – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Inspektor-Appleby-Serie (German Edition)
Richtung mußte sie vier Meilen weit gehen. Wenn sie von dieser gedachten Linie abkam, gab es keine Möglichkeit mehr, darauf zurückzukommen; bestenfalls wies der Steuerstrich ihr dann noch eine Richtung parallel zur eigentlichen. Aber selbst dann waren die Aussichten gut, daß sie irgendwann auf die Bahnlinie stieß; daran konnte sie sich vorarbeiten, bis sie an einen Bahnhof kam, oder sie versteckte sich, bis ein Zug nahte, und gab dem Lokomotivführer ein Signal. Sheila schloß auch den obersten Knopf von Dicks Regenmantel – der Nebel war inzwischen naß und kalt und schwer – und stapfte voran.
Es ging mühsam, denn sie versuchte stets den Kompaß auf einen Heidebusch vor sich zu richten. Als sei der Geist ihrer Pfadfinderzeit zurückgekehrt; sie blickte an sich herunter, als rechne sie fast damit, daß sie den blauen Kittel wieder sah, die schwarzen Baumwollstrümpfe, die über dünnen Beinen ihre Falten schlugen. Aber diese Methode war die zuverlässigste. Und sie blieb dabei, bis sie die Stimmen hinter sich hörte.
Stimmen von drei oder vier Männern – das Haus mußte eine regelrechte Garnison sein. Drei oder vier Männer, noch in einiger Entfernung, die sich laut etwas zuriefen, immer wieder, und gar nicht versuchten, unauffällig zu sein. Sheila spürte, wie ihr Herz pochte; doch das brachte auch ihre Gehirnzellen in Gang, und an den Rufen der Männer fiel ihr etwas auf. Ihr rasender Verstand tauchte tief in die Erinnerung ab und holte Dunkelheit hervor, Musikfetzen, eine Kinoleinwand. Ein Mann auf einem Elefanten mit Tropenhelm und Flinte. Eine lange Reihe schwarzhäutiger Männer, die mit langen Stöcken auf einen Dschungel einschlugen und dabei aus vollem Halse brüllten. Und genauso war es hier. Die Stimmen riefen nicht, um in Kontakt miteinander zu bleiben. Sie riefen, um das Wild, das sie vor sich hertrieben, aufzuscheuchen, so daß es gedankenlos voranlief.
Sie versuchten, sie ihren Gefährten in die Arme zu treiben, die weiter vorn bereitstanden. War es nicht das Beste, wenn sie kehrtmachte und zwischen ihnen hindurchschlüpfte – und dann geradewegs nach Norden oder Süden ginge, im Vertrauen darauf, daß sie sich im Moor schon aus den Augen verlieren würden? Aber denkbar war auch, daß ihr Plan raffinierter war. Vielleicht hatten sie ja mit genau der Reaktion, die ihr jetzt durch den Kopf ging, gerechnet. Sie war kein Elefant und kein Tiger; vielleicht erwarteten sie etwas ganz anderes von ihr … Sekundenlang stand Sheila da und überlegte. Dick, beschloß sie dann, hätte auch jetzt noch gesagt, daß es vor allem auf die Richtung ankam. Zur Orientierung nach Heidebüschen blieb keine Zeit. Sie nahm die Kompaßrichtung und ging mit raschen Schritten voran.
Sie maß die Zeit ab und marschierte vierzig Minuten lang. Die Stimmen wurden leiser, aber vielleicht nur, weil der immer dichter werdende Nebel sie dämpfte; der Boden unter ihren Füßen führte bergan, immerhin steil genug, daß sie, wenn sie ihr Tempo beibehalten wollte, die Anstrengung spürte. Zwei- oder dreimal stolperte sie, einmal mit einem Gefühl des Überdrusses, das eher eine Erschöpfung des Verstandes schien als eine des Körpers. Immer deutlicher nahmen Bilder, auf die ihre Lage sie offenbar gebracht hatte, vor ihrem inneren Auge Gestalt an: der junge Wordsworth, von Furien über die Fells gehetzt, ein entsprungener Sträfling und ein Richter auf Urlaub, die an einem Bach saßen und plauderten – dies letztere ein Bild aus einem Stück von Galsworthy, das sie einmal gesehen hatte. Es waren sehr lebendige Bilder, Halluzinationen geradezu; sie lockten ihr Auge fort von dem grauen Einerlei, durch das sie stapfte, so unbestimmt und so ermüdend. Sie mußte sich anstrengen, ihre Gedanken beisammenzuhalten, selbst noch als sie sah, daß sich der Nebel veränderte.
Er teilte sich, aber anders als zuvor. Statt der Risse und Schwaden entstand etwas wie schwebende Tunnels, durch die sie hindurchsehen konnte. Wo sie im einen Augenblick auf eine weiße Wand blickte, sah sie im nächsten durch einen flüchtigen Gewölbegang auf einen Fleck in unendlicher Ferne. Bisweilen brach ein Sonnenstrahl durch die Wolken, und wenn ein Tunnel sich auf einen Flecken öffnete, der von einem solchen Strahl beschienen war, dann war es wie ein erleuchtetes Zimmer am Ende eines taumelnden Korridors. Und in einem solchen Tunnel, weit zu ihrer Linken, sah sie die Bahnstrecke.
Einen Augenblick lang hatte eine bleiche Sonne das Metall der Gleise
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