Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Gefahr bringen, und alles, was ich erlebt habe, scheint ihm recht zu geben. Aber was, wenn er sich irrt? Oder lügt?
Es ist zu viel für meinen Kopf, zu viel, um es alles auf einmal erfassen zu können. Ich stecke das Buch wieder weg und gehe tiefer in den Wald hinein. Ich schlängle mich zwischen mächtigen Bäumen hi n durch und lasse meine Finger über ihre raue Rinde gleiten. Der Boden ist übersät mit Eicheln, trockenen Blättern und dürren Zweigen.
Ich gelange auf eine Lichtung und vor mir liegt ein kle i ner, glasklarer Weiher. Auf der gegenüberliege n den Seite steht ein Bootshaus. Ein abgewetztes bla u es Ruderboot mit nur einem Ruder ist an einem Baumstumpf vertäut. Das Boot schaukelt i m leichten Wind hin und her, sodass sich die Wasseroberfläche leise wellt. Es ist niemand da, der mich sieht, also binde ich das Boot los, klettere hinein und mache es mir bequem. Die Sonne ist ein warmer Kuss auf meinem Gesicht. Ich denke an Mary Dowd und ihre sch ö nen Visionen von einem Tor aus Licht, einem fantastischen Garten. Wenn ich meine Visionen ko n trollieren könnte, würde ich mir am allermeisten wünschen, das Gesicht me i ner Mutter zu sehen.
»Ich würde sie mit aller Kraft herbeiwünschen«, flüstere ich und blinzle die Tränen fort. Lass sie doch einfach fli e ßen, Gem. Ich schluchze leise in meinen Arm, bis ich e r schöpft bin und meine Augen bre n nen. Das rhythmische Schlagen der Wellen gegen die Bootswand lullt mich ein und bald umfängt mich tröstender Schlaf.
Ich träume. Ich laufe im nächtlichen Nebel barfuß über Waldboden, der Atem flockt in kleinen weißen Wölkchen aus meinem Mund. Ich jage einem Reh nach, sein braunes Fell flimmert durch die Bäume wie ein Irrlicht, das mich foppt. Aber ich komme n ä her. Meine Beine werden schnell und schneller, bis ich fast fliege. Ich strecke meine Hände nach der Flanke des Rehs aus. Meine Finger fassen das Fell, aber es ist nicht länger ein Reh, sondern das blaue Kleid meiner Mutter. Es ist meine Mutter. Ein L ä cheln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.
»Wo bin ich?«, ruft sie und läuft weg.
Ihr Rocksaum verfängt sich an einem Ast, sie reißt ihn los, aber ein Stück davon bleibt hängen. Ich p a cke den Stoffstreifen, stecke ihn in mein Mieder und folge ihr durch den Ne b elwald bis zur Ruine eines alten Tempels, dessen Boden mit den Blütenblättern von Lilien übersät ist. Ich fürchte, dass ich sie verl o ren habe, aber sie winkt mir vom Pfad her. Durch den Nebel jage ich ihr nach, bis wir die muffigen Hallen von Spence erreichen, die endlosen Tre p pen hoch und den Flur im dritten Stock entlang. Ich folge ihrem Lachen die letzte Treppenflucht hinauf, bis ich –allein –oben stehe, vor der verschlossenen Tür zum Os t flügel. Die Luft wispert mir ein Schlaflied zu … Komm zu uns, komm zu uns, komm zu uns. Ich stoße mit meiner fl a chen Hand die Tür auf. Es ist nicht länger eine ausgebran n te Ruine. Der Raum ist erfüllt von Licht, mit goldenen Wänden und schimmernden Böden. Meine Mutter ist ve r schwunden. Dafür sehe ich das kleine Mädchen, das seine Puppe an sich drückt.
Ihre Augen sind groß und sehen mich an. »Sie h a ben mir mein Püppchen versprochen.«
Ich will sagen: Tut mir leid, ich verstehe nicht, aber die Wände schmelzen hinweg. Wir sind in einer Gegend mit kahlen Bäumen, Schnee und Eis und klirrender Winterkä l te. Etwas Dunkles, die Dunke l heit an sich bewegt sich am Horizont. Das Gesicht eines Mannes taucht auf. Ich kenne ihn. Amar, Ka r tiks Bruder. Er läuft vor etwas davon, das ich nicht sehen kann. Und dann spricht das dunkle Etwas zu mir.
»So nahe …«
Ich wache schlagartig auf. Das Gleißen der Sonne ble n det mich und einen Moment lang ist mir nicht klar, wo ich bin. Ich spüre, wie mein Herz in meiner Brust hämmert. Der Traum scheint wirklicher zu sein als das Wasser, in das ich m eine Finger tauche. Und meine Mutter. Sie war nahe genug, um die Hand nach mir auszustrecken. Warum ist sie weggelaufen? Wohin hat sie mich geführt?
Unterdrücktes Gekicher dringt in meine Gedanken, es kommt hinter dem Bootshaus her. Ich bin nicht allein. Wieder dieses Gekicher und jetzt erke n ne ich Felicitys Stimme. Über mir schlägt alles z u sammen. Die Sehnsucht nach meiner Mutter, die mir sogar im Traum entgleitet. Die unergründbaren G e heimnisse in Marys Tagebuch. Die blinde Wut, die ich gegen Felicity und Pippa und all jene empfinde, die achtlos durchs Leben gehen. Sie haben den
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