Der geheime Zirkel 01 - Gemmas Visionen
Publikum hört man da und dort Schnäuzen und Schnüffeln. Meine Mutter würde niemals so dick au f tragen. Ich tische eine Lüge auf, um zu sehen, wie sie da r auf reagiert.
»Mutter, vermisst du unser Heim in Surrey nicht ganz schrecklich? Die Rosenbüsche hinter dem Haus, neben dem kleinen Amor?«
Ich hoffe inständig, dass sie sagt: »Gemma, hast du vie l leicht einen kleinen Dachschaden erlitten, meine Liebe?« Irgend so etwas. Alles. Nur nicht das.
»Oh, ich kann es von hier immer sehen, mein Liebling. Das Grün von Surrey. Die Rosen in unserem wunde r vollen Garten. Aber trauere nicht zu sehr um mich, mein Kind. Eines Tages werden wir einander wiede r sehen.«
Die Menge schnüffelt und seufzt vor Rührung, während mir die Lüge sauer aufstößt. Madame R o manoff ist nichts anderes als eine Schauspielerin. Sie täuscht vor, meine Mutter zu sein, eine Person n a mens Sarah Rees-Toome, die in einem kleinen Lan d haus wohnt, mit einer Amorstatue hinten im Garten, während meine Mutter, Virginia Doyle, nie einen Fuß auf den Boden von Surrey gesetzt hat. Ich möchte Madame Romanoff einen Geschmack davon g e ben, wie es wirklich auf jener anderen Seite ist, wo die Geister einen nicht freudig begrüßen. Ich merke nicht, dass ich mit meiner ganzen Kraft Madame Romanoffs Hand festhalte, weil ein plötzliches, flammendes Licht empo r schlägt, als öffnete sich die Erde. Ich falle wieder in jenen Tunnel und meine Wut zieht mich mit Macht nach unten.
Aber diesmal bin ich nicht allein.
Irgendwie ist es mir gelungen, Madame Romanoff mi t zunehmen, wie es mir fast mit Pippa passiert wäre. Ich h a be nicht die leiseste Ahnung, wie ich das gemacht habe, aber sie ist da, wirklich und wahrha f tig, und schreit sich die Seele aus dem Leib.
»Verdammter Mist, wo bin ich?« Zumindest Madame Romanoffs Temperament ist unzweifelhaft russisch. »Was für ein Teufel ist in Sie gefahren?«
Ich kann nicht antworten. Meine Stimme versagt. Wir befinden uns in einem dunklen, von Nebel e r füllten Wald e inem Wald, den ich aus meinen Trä u men kenne. Es muss derselbe dunkle, neblige Wald sein, über den Mary Dowd geschrieben hat. Ich habe es geschafft. Ich habe das Mag i sche Reich betreten. Und es ist so wirklich wie die kre i schende, dicke Gaunerin neben mir.
»Was soll das, eh?« Sie packt mich fest am Ärmel.
In den Bäumen bewegt sich etwas. Der Nebel verzieht sich. Sie kommen langsam heraus, einer nach dem anderen, bis sie zwanzig oder mehr sind. Die Toten. Hohläugig. Mit blassen Lippen. Die Haut durchscheinend über die Kn o chen gespannt. Eine mit Lumpen bekleidete Frau trägt ein Baby an der Brust. Sie trieft von Nässe und glitschige grüne Pflanze n teile schlingen sich durch ihr Haar. Zwei Männer wa n ken mit ausgestreckten Armen vorwärts. Ich kann die Knoche n stümpfe sehen, wo ihre Hände glatt abg e hackt wurden. Sie k ommen immer näher, ihre Mü n der machen die gleichen grässlichen Murmelgeräusche wie die anderen T o ten.
»Komm zu uns. Komm zu uns.«
Madame Romanoff brüllt wie am Spieß und klammert sich an meine Seite. »Was zum Teufel ist da los? Süßer Jesus, schaff mich hier raus. Bitte! Ich will keine Me n schenseele mehr beschwindeln, ich schwör ’ s beim Grab meiner Mutter, ich werd ’ s nie wieder tun.«
»Halt«, sage ich und hebe eine Hand. Überraschenderwe i se funktioniert es. »Wer von euch ist S a rah Rees-Toome?«
Keiner der Geister meldet sich.
»Ist jemand unter euch mit diesem Namen?«
Nichts.
»Sag ihnen, sie sollen verschwinden«, bettelt Madame Romanoff. Sie hebt einen Ast vom Boden auf und fuchtelt wild damit herum, um die Geister zu verscheuchen. Und dann, durch die Bäume, sehe ich sie. Die blaue Seide ihres Kleids. Ich höre den wa r men Bernsteinton ihres Lachens.
Wo bin ich, Liebes?
Ich packe Madame Romanoff an den Schultern. »Wie ist Ihr Name? Ihr wirklicher Name.«
»Sally«, sagt sie heiser vor Angst. »Sally Carny.«
»Sally, hören Sie mir zu. Ich muss Sie für einen Auge n blick verlassen, aber ich bin gleich wieder da. Es wird I h nen nichts geschehen.«
» Nein! Lass mich hier nicht allein mit denen, du kleine Schlampe, oder ich kratz dir deine unheiml i chen grünen Augen aus, wenn du zurückkommst! Wart ’ s nur ab!«
Sie schreit, aber ich laufe schon durch die Bäume, dem Blau der Hoffnung nach, das mich lockt, zum Greifen nah, ohne dass ich es jemals erreiche. Und dann bin ich in e i nem halb verfallenen Tempel. Ein Buddha sitzt im Lotu s
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