Der geheime Zirkel 02 - Circes Rueckkehr
und einen Vortrag über gutes Benehmen über uns ergehen lassen. Es hat den ganzen Mo r gen geschneit. Ich habe noch nie Schnee gesehen und hätte große Lust , in das üppige Weiß hi n auszuspazieren und die k alten , feuchten Kristalle auf meinen Fingerspitzen zu fühlen. Mrs Nightwings Worte dringen wie von fern in meine wa n dernden Gedanken.
»Bestimmt möchten Sie nicht von der guten Gesellschaft geschnitten und von den Einladungslisten der vornehmsten Häuser gestrichen werden …«
»Bitten Sie nie einen Herrn während eines Tanzes , I hren Fächer , I hren Blumenstrauß , o der Ihre Handschuhe zu ha l ten , a ußer es handelt sich um Ihren Begleiter oder einen Ve r wandten …«
Da ich keine Herren außer meinem Vater und meinem Br u der kenne , dürfte diese Sorge gering sein. Das stimmt nicht ganz. Ich kenne Kartik. Aber es ist sehr unwah r scheinlich , dass wir einander in den Londoner Ballsälen über den Weg laufen. Was hat er mir zu sagen? Ich hätte mich auf dem Rückweg von der Abendandacht mit ihm treffen sollen. Für wie dumm muss er mich jetzt halten.
»Die ranghöchste Dame sollte a ls Erste den Speisesaal b e treten. Die Gastgeberin hat als Letzte einzutreten …«
»Lautes Reden oder Lachen auf der Straße zeugt von schlechter Erziehung …«
»Die Bekanntschaft eines Mannes , d er trinkt , s pielt oder andere Laster pflegt , i st unter allen Umständen zu meiden , d enn er könnte Ihren Ruf schädigen …«
Ein Mann , der trinkt. Vater. Ich möchte den Gedanken wegschieben. Ich sehe Vater vor mir , wie ich ihn im O k tober gesehen habe , mit vom Laudanum verschleie r ten Augen und zitternden Händen. In den wenigen Briefen , die mir Großm a ma seither geschrieben hat , steht nichts über seinen Gesun d heitszustand , über seine Sucht. Ist er geheilt? Ist er inzwischen wieder der Vater , an den ich mich erinnere , der fröhliche Mann mit einem Glitzern in den Augen und seiner Schlagfe r tigkeit , die uns alle zum Lachen brachte? Oder ist er noch der Vater , den Mutters Tod verändert hat –der innerlich leere , ausg e brannte Mann , der mich nicht mehr zu sehen scheint?
»Damen dürfen einen Ballsaal nicht unbegleitet verlassen. Wenn sie das tun , k önnte es Klatsch nach sich ziehen.«
Der Schnee häuft sich an den Fensterscheiben und bildet dort winzig kleine , hügelige Dörfer. Das Weiß des Schnees. Das Weiß unserer Handschuhe. Das Weiß von Pippas G e sicht. Pippa.
Sie sind hinter dir her , G emma …
Ein eisiger Schauder überläuft mich. Es hat nichts mit der Kälte zu tun. Mich schaudert vor dem , was ich nicht weiß; was ich zu entdecken fürchte.
6. Kapitel
A ls wir in den Schnee hinausdürfen , sind alle Unstimmigke i ten des Morgens vergessen. Das fr i sche Weiß reflektiert die kräftigen Sonnenstra h len so gleißend hell , dass es die Augen blendet. Die jüngeren Mä d chen quietschen vor Vergnügen. Eine Gruppe hat schon angefangen , einen Schneemann zu ba u en.
»Ist es nicht fantastisch?« , seufzt Felicity. Um a n zugeben , hat sie sich mit ihrem neuen Fuchsfellmuff au s staffiert und ist rundum glücklich. Ann stapft zimpe r lich , mit verkniffenem Mund hinterher. Der Schnee ist für mich das reinste Wunder. Ich nehme eine Handvoll und bin überrascht , wie klebrig er ist. »Oh , er pappt! « , rufe ich.
Felicity betrachtet mich , als seien mir plötzlich zwei Köpfe gewachsen. »Ja. Natürlich.« Jetzt dämmert es ihr. »Du hast noch nie Schnee gesehen!.«
Ich möchte mich vor Entzücken in die weiße Pracht hinei n fallen lassen und darin baden. Ich bringe eine kle i ne Menge Schnee an meine Lippen. Er sieht aus , als müsste er cremig wie Pudding schmecken , aber stattde s sen ist er nur kalt. Die Flocken lösen sich sofort auf , schmelzen auf meiner Zunge. Ich kichere , als sei ich nicht ganz bei Trost.
»Warte , ich zeig dir was« , sagt Felicity. Mit behandschu h ten Händen schaufelt sie Schnee zusammen , klopft und formt ihn , bis ein fester Ball entsteht , den sie mir zeigt. »Dies ist ein Schneeball.«
»Ah« , sage ich und verstehe überhaupt nichts.
Ohne Vorwarnung wirft sie den festen Klumpen nach mir. Er trifft mich hart am Ärmel , ein Sprühregen feuchter Krista l le spritzt mir ins Gesicht und in die Haare , bis ich spucke.
»Ist es nicht wundervoll?« , fragt sie.
Vermutlich sollte ich ärgerlich sein , aber ich muss l a chen. Es ist wundervoll. Ich liebe den Schnee und wünschte , er würde niemals schmelzen.
Schließlich
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