Der geheime Zirkel 02 - Circes Rueckkehr
dass es sich um eine Irre n anstalt handelt , würde ich schwören , einen von Londons exklusiven Klubs zu betreten. Die Kra n kenschwestern mit ihren steifen weißen Hüten nicken uns im Vorbeig e hen leicht zu.
Tom führt mich in einen holzgetäfelten Aufenthalt s raum , in dem einige Frauen sitzen und nähen. Eine etwas zerzauste Alte spielt ganz versunken Klavier , sie klimpert eine kind i sche Melodie und singt dazu mit einer dünnen , wackligen Stimme. In einer Ecke steht ein Käfig mit e i nem prächtigen Papagei. Der Vogel krächzt. »Wie geht es uns heute? Wie geht es uns heute?«
»Es gibt hier einen Papagei?« , flüstere ich. Ich versuche , Haltung zu bewahren , als würde ich jeden Tag eine Irrena n stalt besuchen.
»Ja. Er ist eine Dame und heißt Kassandra. Sie ist sehr g e sprächig. Sie lernt von allen unseren Patienten ein bis s chen. Botanik , Navigation , unzusammenhängendes Zeug. Bald werden wir sie auch kurieren müssen.«
Wie auf ein Stichwort kreischt Kassandra: »Ich bin ein gr o ßer Dichter. Ich bin ein großer Dichter.«
Tom nickt. »Einer unserer Patienten , Mr Osborne , bi l det sich ein , ein Dichter zu sein und ein kleines Verm ö gen zu besitzen. Er findet es empörend , dass wir ihn hier festhalten , und schreibt täglich Briefe an seinen Verleger und an den Herzog von Wales.«
Die ältere Frau am Klavier hört plötzlich auf zu spi e len. In höchster Erregung kommt sie händeringend auf Tom zu. »Ist das alles ein Traum? Können Sie mir das sagen?« , fragt sie mit ängstlicher Stimme.
»Ich versichere Ihnen , Mrs Sommers , dass alles ganz real ist.«
»Werden sie mir wehtun? War ich schlimm?« Sie zupft an ihren Wimpern und reißt einige dabei aus.
Eine Krankenschwester mit einer gestärkten weißen Schü r ze eilt herbei und beruhigt sie. »Aber , aber , Mrs Sommers , wo ist denn Ihre wunderschöne Melodie geblieben? Kommen Sie , wir wollen uns wieder ans Kl a vier setzen , ja?«
Die Hand der Frau flattert wie ein verwundeter Vogel und fällt kraftlos herunter. »Ein Traum , ein Traum. Alles ein Traum.«
»Du hast soeben Mrs Sommers kennengelernt.«
»Das ist mir klar.«
Ein großer , dünner Mann mit einem gepflegten Kinn-und Schnurrbart kommt auf uns zu. Seine Kleidung ist etwas ze r knittert und sein Haar will nicht glatt anliegen , aber sonst wirkt er ganz normal.
»Ah , Mr Snow . Wie geht es Ihnen heute?« , fragt Tom.
»Bestens , bestens« , antwortet der Mann. »Ich habe Dr. Smith einen Brief geschrieben. Er wird sich meines Falles annehmen und ihn prompt erledigen , prompt erledigen , prompt erledigen. Ich werde jedenfalls auf den Ball g e hen. Jedenfalls. Jedenfalls , Sir.«
»Wir werden sehen , Mr Snow. Zuerst müssen wir uns mit Ihrem Betragen auf dem letzten Ball befassen. Sie haben sich ziemliche Freiheiten gegenüber den Damen herausgenommen. Das war gar nicht rühmlich.«
»Lügen , Lügen , nichts als Lügen. Mein Anwalt soll die S a che in die Hand nehmen , Sir , jawohl. Alles Lügen , sag ich Ihnen.«
»Wir werden es besprechen. Und jetzt wünsche ich I h nen einen guten Tag.«
»Dr. Smith hat meinen Brief , Sir! Er soll mein Ansehen wiederherstellen!«
»Mr Snow« , erklärt mir Tom auf dem Weg durch den Au f enthaltsraum. »Er hat die Gewohnheit , beim Tanzen seine Hand wandern zu lassen.«
»Oh« , sage ich. Ich werde tunlichst vermeiden , mit Mr Snow zu tanzen. Tom begrüßt alle , denen wir unterwegs b e gegnen , höflich. Wenn ich bedenke , was für ein Ekel er zu Hause ist , dann ist es ziemlich überraschend , ihn hier so f reundlich und beherrscht zu sehen. Ich bin stolz auf ihn. Es ist unglaublich , aber ich bin es wirklich.
Am Fenster sitzt ein Mädchen , ein kleines , schmächtiges Ding. Ihr Gesicht ist mager , trotzdem kann ich sehen , dass es einmal hübsch war. Dunkle Ringe liegen unter ihren braunen Augen. Sie kämmt sich mit dünnen Fi n gern durchs Haar , das nach hinten gefasst und zu einem Knoten geschlungen ist. Aus dem Dutt stehen überall Haarbüschel weg , sodass sie ein bisschen wie der Papagei , Kassandra , aussieht.
»Guten Morgen , Miss Hawkins« , sagt Tom munter.
Das Mädchen erwidert nichts.
»Miss Hawkins , darf ich Ihnen meine Schwester , Miss Gemma Doyle , vorstellen. Sie möchte Sie sehr gerne kenne n lernen. Sie hat ein Buch mit Gedichten mitg e bracht. Sie beide könnten sich nett miteinander unterha l ten.«
Wieder Schweigen. Nells Zunge fährt über ihre aufg e sprungenen Lippen. Tom schaut mich
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