Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
erhitztes Gesicht an ihre Brust. Helene streichelte ihm über die dunklen Locken.
»Das weiß ich doch. Ich kann aber doch nicht jeden Morgen hinter dir herrennen.«
»Und wieso nicht?« Michael schaute sie aus seinen großen blauen Augen an.
»Weil ich anderes zu tun habe, darum!« Helene gab ihm einen kurzen Klaps auf den Hintern und schob ihn in Richtung Haus. Dabei zog sie den groben Wollschal, den sie sich um die Schultern geknotet hatte, ein wenig enger. Es war kalt geworden in den letzten Tagen. Offiziell begann der Winter am 1. Juni, doch die schlimmste Kälte erlebten sie meist erst im Juli. Die großen Magpies, die auf dem Scheunendach kauerten, gaben schauerlich verlorene Rufe von sich.
Viel lauter und durchdringender als die Krähen daheim, dachte Helene, und ein Kälteschauder lief ihr über den Rücken. Als sie die mit Stroh abgedeckten Beete entlang zurück zum Haus lief, den hüpfenden Michael vor ihr, fiel ihr Blick auf das Gehege mit den Hühnern, und sie erinnerte sich an die Zeit, da es noch Joey gehörte, den sie als zitterndes Knäuel von den verbrannten Feldern mitgebracht hatten. Sie zog ihn geduldig mit der Flasche auf, zur großen Freude Klein Michaels, doch als Joey in etwa so groß war wie Arko, der Schäferhund der Peters, und begann, Gras zu fressen, da beschlossen Johannes und sie, das zahme Tier in die Wildnis zu entlassen. Sie hatten versucht, Michael auf jenen Moment vorzubereiten, doch als es dann so weit war und sie Joeys Drahtverhau öffneten, weinte der Kleine bitterlich und wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Zu sehen, wie das Kind unter dem Verlust seines ungewöhnlichen Spielgefährten litt, zerriss ihnen fast das Herz. Auch Helene trauerte insgeheim eine ganze Weile dem so liebgewonnenen Tier nach. Sie glaubte nicht weniger als Michael, dass Joey sich nach all den Monaten der Fürsorge ein wenig anhänglicher zeigen würde. Doch Johannes hatte recht. Das Tier gehörte ihr nicht, es brauchte seinen natürlichen Lebensraum. Sie war aber noch aus einem anderen Grund traurig, obwohl ihr bewusst war, dass es pure Sentimentalität war. Joey verband sie nämlich auf eine besondere Weise mit Johannes, mit jenem Moment, da sie sich geküsst hatten, als hätten sie einander erkannt.
Anna hatte den Vorhang des Küchenfensters zur Seite geschoben und winkte ihnen zu, das Baby im Arm. Sie winkten zurück. Anna deutete eindringlich auf einen Punkt hinter ihnen, und als Helene und Michael sich umdrehten, sahen sie ein Känguru hinten am Feldrand stehen, ganz still, die spitzen Ohren aufgestellt.
»Joey!«, rief Michael freudig, und schon hüpfte das Tier in großen Sprüngen auf sie zu. Helene lächelte. Sie wussten nie genau, wann Joey auftauchen würde, nur dass das eher nachtaktive Tier alle paar Tage entweder in aller Frühe oder am Abend, wenn es anfing zu dämmern, auf dem Hof der Peters erschien. Dann ließ es sich von Helene ausgiebig das weiche, hellgraue Fell kraulen, und weniger gern von Michael über den Hof jagen. So plötzlich, wie das Känguru aufgetaucht war, verschwand es in der Regel auch wieder.
Michael hielt dem Tier ein Büschel Gras hin, das es nun ruhig kaute, während Helene es zwischen den Ohren kraulte.
»Ich kann gar nicht glauben, wie klein Joey mal war. Schau ihn dir nur an, er ist mittlerweile viel größer als du.« Michael schien der Vergleich gar nicht zu gefallen.
»Aber nicht mehr lange. Dann bin nämlich ich der Größte. Größer als Joey und größer als du. Vielleicht sogar größer als Vater.«
»Das kann schon sein«, lachte Helene. »Aber jetzt verabschiedest du dich lieber von Joey. Wir müssen zurück ins Haus.«
»Bis bald, Joey.« Michael tätschelte dem Känguru den Rücken und folgte Helene.
Anna goss Kaffee aus der großen Emaillekanne ein und reichte Helene den dampfenden Becher.
»Hier, ihr zwei müsst ja völlig durchgefroren sein. Der Winter ist in diesem Jahr aber auch wirklich früh gekommen.« Sie schüttelte sich und gab ihrem ältesten Sohn seine heiße Morgenmilch, während sie ihn liebevoll auf den Scheitel küsste. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst die arme Helene nicht so ärgern, sonst läuft sie uns noch eines schönen Tages davon.« Michael blickte erschrocken auf.
»Das machst du doch nicht, oder?« Er hatte seinen Becher abgestellt und fuhr sich mit dem Handgelenk über den Mund, um den Milchbart zu entfernen. Helene lachte nur.
»Könntest du bitte Matthias für eine Weile halten? Ich hole
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