Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
blieb. Er schlug seine Hütten beziehungsweise Gunjahs, wie sie die aus der Papierrinde des Eukalyptus errichteten Unterkünfte nannten, dort auf, wo die Jahreszeit die beste Nahrung versprach, und zog nach einer Weile weiter, damit sich die Natur bis zum nächsten Besuch wieder erholen konnte.
»Und woher wisst ihr, wann es an der Zeit ist aufzubrechen?«, hatte Helene interessiert gefragt.
Amarinas Gesicht wirkte gleichgültig und von der Fragerei der Weißen gelangweilt. Sie stocherte mit einem Stöckchen im Laub.
»Ich weiß nicht. War immer so.«
Doch Helene blieb hartnäckig, stellte weitere Fragen, und so erfuhr sie von Amarina unter anderem, dass sich die Familie nach Möglichkeit nie trennte. Familie bedeutete dem Stamm neben dem Land alles. Von wem sonst sollten die Kinder lernen, im Busch zu überleben? Lernten sie in der Schule der Weißen etwa, wie man Wildgänse jagte oder die essbaren von den giftigen Früchten unterschied? Konnten die Weißen ihnen beibringen, wie man ein ganzes Känguru in einem Erdloch kochte oder Wasser unter den Wurzeln fand?
Helene fragte Amarina, ob sie nicht glaube, dass das Leben der weißen Siedler besser sei. Die Aborigine schüttelte heftig den Kopf. Ihr Leben sei nicht leicht, erklärte sie, aber so war es schon immer gewesen. All die wunderbaren Geschichten der Traumzeit gehörten dazu. Sie wurden von Generation zu Generation mündlich überliefert. Mythische Erzählungen, die von der Erschaffung des Universums handelten oder davon, wie die Regenbogenschlange die Welt geformt hatte. Geschichten über Geister, über ihre Vorfahren und darüber, wo die Kinder ihren Platz in der Traumzeit fänden und wohin sie einmal gehen würden, wenn es an der Zeit wäre und die Ahnen sie singend riefen. Was, fragte Amarina, könnte es Wichtigeres geben, als seinen Platz in der Welt und unter den eigenen Leuten zu finden? Was sollte es dagegen den Kindern schon nützen, wenn sie die Sprache der Weißen beherrschten? Die Weißen gehörten nicht hierher, sie waren eines Tages mit dem Schiff gekommen und hatten ihnen ihr Land weggenommen. Wieso also sollten die Aborigines es gutheißen, wenn man ihren Kindern fremde Lieder beibrachte, die von einer fremden Welt sangen, einer Welt, die nicht die ihre war und in die sie nicht hineingehörten?
Helene hatte lange nicht alles verstanden. Amarina war während des Gesprächs plötzlich sehr heftig geworden und am Ende in ihre weiche, gurrende Sprache verfallen. Doch das, was Helene zu verstehen glaubte, ließ sie nachdenklich werden. Es war das erste Mal, dass sie sich und die eigene Kultur mit einem völlig fremden Blick wahrnahm, und das Gefühl, das diese Erkenntnis in ihr auslöste, war faszinierend und beängstigend zugleich. Sie wollte gerne mehr erfahren. Die Regenbogenschlange, von der ihr Amarina mit funkelnden Augen und lebhaften Gesten berichtet hatte, das hörte sich nach einem spannenden exotischen Märchen an – so wundersam fremd, dass es Helene einen wohligen Schauder den Rücken hinunterjagte. Ob jemand von den Peters mehr darüber wusste?
Die Familie Peters, bei der Helene lebte, seit sie letztes Jahr in Australien angekommen war, waren Neu Klemziger der ersten Stunde. Das Familienoberhaupt Maximilian war schon vor über fünfzig Jahren von Salkau aus nach Australien ausgewandert. Die Peters, samt den bereits in Australien geborenen Söhnen, hatten die Gemeinde Neu Klemzig mitbegründet. Ihr Ruf war es letztlich gewesen, der Helene nach Südaustralien gelockt hatte. Wie alle anderen Salkauer auch hatte sie viel über die erfolgreiche Pionierarbeit der mutigen Familie gehört, und irgendwann ließ es sie nicht mehr los. Neu Klemzig – im Grunde war das die Petersfamilie, auch wenn die viel zu bescheiden war, um das zuzugeben.
Die Peters könnten ihr zweifelsohne mehr über die Einheimischen erzählen. Doch Helene wusste schon jetzt, dass sie sich nicht trauen würde, zu fragen. Sie käme sich viel zu dumm vor.
Helene schreckte aus ihren Gedanken auf, als sich Luise mit einem Seufzer neben ihr auf die Bank plumpsen ließ.
»Na, an was denkst du gerade?«
Helene strich mit einer Bewegung, die ihre Unsicherheit verbergen sollte, das Haar über die linke Schulter.
»Ach, nichts weiter. Ich frag mich nur, wo Amarina und Cardinia wohl gerade sind.« Vor kurzem erst hatte ihr Amarina plötzlich und ohne Erklärung ein seltsames Amulett in die Hand gedrückt, dessen Bedeutung Helene nicht kannte. Noch am selben Tag war die
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