Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
die entsprechende Richtung, und als Nataschas Blick ihm folgte, sah sie das Meer, von dem sie nur eine schmale Straße und der breite Strand trennte. Alan schob eine Hand in die Hosentasche seiner Shorts. Natascha zwinkerte ins Sonnenlicht.
»Wie spät ist es denn jetzt?«
»Gleich acht. Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe. Dein Vermieter hat den Begriff Türglocke wohl ziemlich wörtlich genommen.«
Natascha lächelte, schüttelte dann den Kopf.
»Kein Problem.« Langsam wachte sie auf. Alan hielt ihr den großen Pappbecher hin, den er die ganze Zeit über in der anderen Hand gehalten hatte. »Als kleine Entschuldigung für Mitch sozusagen. Cappuccino, extrastark. Hoffe, das ist okay so.«
»Danke.« Natascha lächelte wieder und nahm dankbar den Kaffee entgegen.
»Also, ich muss dann los. Wenn du magst, sehe ich dich gegen drei am Tauchcenter? Bis dahin kannst du dir dort schon mal einen Tauchanzug und die Ausrüstung zusammensuchen. Okay?«
»Ja, gut, mach ich.«
Alan hob zum Abschied die Hand und lief zum Strand runter. Sie sah ihm nach, wie er ins Meer hineinwatete und in ein schwarzes Schlauchboot kletterte, in dem schon eine Gruppe von Leuten saß. Alans Ellbogen stieß zweimal ruckartig zurück, dann hatte er den Motor angelassen und lenkte das knatternde Boot aufs Meer hinaus.
Natascha setzte sich auf die Stufen ihrer Veranda und nippte am Kaffee. Stark und cremig, genau wie sie ihn mochte.
Das Meer glitzerte in der frühen Sonne. Als sich das Boot entfernt hatte, wurde es wieder ruhig; bis auf einen einsamen Jogger lag der Strand verlassen. Sie lauschte dem Durcheinander der Vogelstimmen und ließ sich Zeit mit dem Wachwerden. Etwas war anders, seit sie auf der Insel angekommen war. Sie drehte eine Haarsträhne nachdenklich um einen Finger. Plötzlich wusste sie es. Natürlich, Mitch hatte es ihr doch gestern erzählt. Die drückende Schwüle war verschwunden. Obwohl Magnetic Island keine vierhundert Kilometer vom tropischen Cairns entfernt war, lag die Insel bereits in einer anderen Klimazone, den Subtropen. Natascha atmete die trockene Luft tief ein und war froh, Mitchs Vorschlag gefolgt zu sein. Er hatte recht gehabt, sie musste sich ein wenig entspannen, und sie glaubte nicht, dass es dazu einen besseren Ort geben konnte als diese Insel.
Rosehill, April 1911
H elene erhob sich von der Bank und begann wieder, im Garten umherzustreifen, dieses Mal ein wenig ruhiger. Dennoch schaffte sie es nicht länger, als ein, zwei Minuten still zu sitzen. Wie könnte sie auch? Noch immer gab es keine Neuigkeiten, was Katharinas Familie betraf. Und auch was die Suche nach Nellie anbelangte, hatte es keinen Fortschritt gegeben. In manchen Momenten wusste Helene nicht, wohin mit sich und all ihren Ängsten. Dann sprang sie auf und fing an, ziellos umherzulaufen. Sie musste einen klaren Kopf bewahren, durfte die Panik nicht die Oberhand gewinnen lassen, wenn sie überhaupt etwas ausrichten wollte. Vor allen Dingen musste sie sich beruhigen.
Sie setzte sich wieder und richtete ihren Blick starr geradeaus. Sie fühlte sich getrieben wie ein gehetztes Tier, das nicht wusste, wohin es fliehen sollte. In ihrer Verzweiflung klammerte sie sich an die Menschen, die ihr Mut machten. Parri – auf ihn war Verlass, das sagte sie sich in einem fort. Er hatte ihr in Brisbane versprochen, die Kinder zu finden, und sie hatte ihm angesehen, dass es ihm genauso ernst war wie ihr. Es war nur dieses tatenlose Warten, das sie noch wahnsinnig machte. Könnte sie bloß irgendetwas tun! Irgendwohin fahren, sich selbst auf die Suche machen.
Sie schaute in den hellen Himmel, als könne sie dort irgendwelche Antworten finden, erblickte aber nur ein paar heitere Wattewölkchen, die rein gar nichts mit ihrem Gemütszustand gemein zu haben schienen. Nellie hätten sie allerdings gefallen. Mit kindlicher Begeisterung hätte sie Helene auf jeden einzelnen der weißen Tupfen hingewiesen, ihre »Schäfchen«. Sie hätte sie wieder und wieder beschrieben und durchgezählt, bis die kleine Herde irgendwo in der Ferne verschwunden wäre. Helenes Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Sie schaute den Wolken nach, bis die ersten hinter dem Haus verschwanden.
Helene zog hörbar die Luft ein. Sosehr sie auch grübelte, am Ende kam sie immer nur zu dem einen Schluss: Sie musste auf Rosehill ausharren. Wegen Nellie. Wegen Nellie war sie damals überhaupt erst nach Rosehill gekommen. Wegen Nellie hatte sie hierherkommen müssen. Nellie
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