Der geheimnisvolle Garten: Roman (German Edition)
eine Reise ins entfernte Adelaide nicht eher von ihrem Ziel wegführen würde, denn die Orta lebten nun mal hier im Norden, genau wie jene Helen Tanner. Andererseits war sie mit ihren Recherchen in eine Sackgasse geraten. Alle neuen Informationen stammten von Onkel Charlie und wiesen in Richtung Süden. Die wichtigste war der Hinweis auf die Herkunft des Amuletts.
Wenn es stimmte, was Charlie vermutete, stammte es aus der Gegend um Adelaide. Die andere Information war die über »diesen Pfaffen«, wie ihn Charlie genannt hatte, jenen Kirchenmann, von dem Charlie vermutete, dass er eine Art Menschenhandel betrieben haben könnte, indem er für Geld Aborigines aus Südaustralien nach Palm Island gebracht hatte. Eine Verbindung zwischen diesen neuen Informationen und ihrer Familiengeschichte erschien Natascha konstruiert, aber da sie nun mal keinen anderen Anhaltspunkt hatte, war der hier so gut wie jeder andere. Stochern im Nebel, mehr konnte sie im Augenblick nicht tun.
Sie trank ihren Kaffee aus und ging ins Bad. Sie hatte sich entschieden.
Rosehill, April 1911
H elene war wieder in den Garten zurückgegangen. Ihr erster Versuch, das Zimmer ihrer entführten Tochter zu betreten, war gescheitert. Sie hatte es am Ende nicht über sich gebracht, die Klinke runterzudrücken, obwohl sie eine ganze Weile vor der Tür gestanden und sich Mut zugeredet hatte. Eigentlich wollte sie nur Nellies Bett neu beziehen, es war gar nichts Besonderes dabei. Doch als sie endlich die Hand auf die Klinke legte, fing sie am ganzen Leib an zu zittern und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Es hatte keinen Sinn, sie war noch nicht so weit, sich dem Schmerz zu stellen, der sie unweigerlich überfallen würde, sobald sie Nellies Zimmer betrat.
Sie hatte sich wieder auf ihre Gartenbank gesetzt. Was sollte sie nur tun? Sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Einen Tag noch, sagte sie sich. Wenn sie noch einen weiteren Tag durchhielt, allein auf Rosehill, dann kämen sie bestimmt nach Hause. Katharina, Matthias, die Kinder und Nellie, sie alle würden zurückkommen.
Helene gab sich einen Ruck und ging erneut ins Haus, um Nellies Bett zu machen, und dieses Mal drückte sie entschlossen die Klinke herunter. Im Türrahmen blieb sie unbeweglich stehen. Sofort stieg ihr ein vertrauter Geruch in die Nase, der einzigartige Duft ihrer Tochter. Sie atmete tief ein, gab sich einen Moment lang der Illusion hin, sie wäre nur hier, um das schlafende Kind zu wecken. Dann öffnete sie die Augen, und ihr Blick fiel auf das leere Bettchen, das noch immer ungemacht in der Ecke stand. Sie ging hinüber, setzte sich auf den Rand, wobei ihr das frische Bettzeug vom Arm auf den Boden rutschte. Vorsichtig strich Helene über das zerknautschte Laken, das sich über die dünne Matratze spannte. Sie fürchtete, sie könne den Abdruck zerstören, den Nellies Körper hinterlassen hatte. Dann legte sie sich langsam mit dem Gesicht nach unten auf das Kissen und umfasste es mit beiden Händen. Nellie. Der Geruch ihres Mädchens umgab sie nun ganz. Helene atmete tief ein, bis es ihr in der Lunge schmerzte, und sie wartete mit dem Ausatmen so lange, wie sie es gerade noch aushielt. Erst als sie fürchtete, in Ohnmacht zu fallen, ließ sie den Duft von Nellie widerwillig aus ihrem Körper entweichen.
Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Es kam ihr so vor, als würde sie die noch spürbare Anwesenheit ihrer Tochter vertreiben, als würde jeder ihrer Atemzüge ein wenig von Nellie wegnehmen. Sie wusste nicht, wie lange sie so dagelegen hatte, doch als sie ihr Gesicht wieder vom Kissen erhob, war der Bezug durchnässt. Ob von Tränen oder Schweiß, hätte Helene nicht sagen können.
Sie setzte sich aufrecht hin, nahm das Kissen auf den Schoß und starrte an die kahle Wand. Dann blickte sie sich im Raum um. Was für ein unordentliches Kind die Kleine doch war! Hatte sie ihr nicht schon hundertmal gesagt, sie solle am Abend das Spielzeug vom Boden räumen? Kopfschüttelnd ließ sie sich auf den Holzboden gleiten und kniete inmitten der kindlichen Unordnung nieder. Sie zog die Spielkiste zu sich heran und begann, zunächst zögerlich, dann immer geschäftiger, die auf den Boden verstreuten Spielsachen einzuräumen. Erst die Klötze, dann den Blechaffen, dessen nervtötendes Scheppern sie schon so manches Mal dem Wahnsinn nahegebracht hatte, und schließlich die bunten Glasmurmeln, die aus irgendeinem Grunde über den Boden rollten, sobald sie nach ihnen greifen
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