Der geheimnisvolle Gentleman
»Besser nicht.«
Auf seinem Weg aus dem Zimmer nahm er eine neue Kerze aus dem dekorativen Behälter auf dem Kaminsims und zündete sie an den glühenden Kohlen an. Nachdem er sie in den silbernen Kerzenhalter gesteckt hatte, belebte sich die Flamme und tauchte das Zimmer in einen goldenen Schimmer.
Olivia stockte der Atem, als das Licht auf seinen nackten, prachtvollen Oberkörper fiel. Bisher hatte sie dessen Ausgeprägtheit nur erahnen können. Der Schein der Kerze hingegen betonte jede Erhöhung, jede Vertiefung seines muskulösen Brustkorbs und die schlanke Kraft seiner Körpermitte.
Er drehte sich zu ihr um, als sie leise aufseufzte, und hob die Kerze, um sie besser zu sehen. Olivia bemerkte erst jetzt, dass
sie sich aufrecht hingesetzt hatte. Ihr Nachthemd war immer noch offen, wie sie erschrocken feststellte. Plötzlich überkam sie Schüchternheit, was geradezu lächerlich war angesichts der Dinge, die er mit ihr gemacht hatte und die sie mit ihm tun wollte, und sie griff an ihr Oberteil.
Sie meinte zu sehen, wie sein Kiefer sich verhärtete, und sie war sich sicher, dass sein Blick Stahl zum Schmelzen hätte bringen können. Es sah ganz danach aus, als würde Seine Lordschaft doch nicht gehen.
Dann blinzelte er, atmete tief ein, und die aufblitzende männliche Wildheit wich aus seinen Gesichtszügen. Er lächelte sie unverbindlich an, wie er es schon oft getan hatte, als wäre er ein ganz gewöhnlicher Mann, gelassen und oberflächlich freundlich.
Was für ein lächerlicher Gedanke! Als könnte ein Mann seines Schlags jemals gewöhnlich sein!
Er drohte ihr mit dem Zeigefinger. »Tst, tst. Immer schön fair bleiben.«
Sie verbarg ihre Enttäuschung, indem sie ihr Nachthemd eng um sich schlang, neigte ihren Kopf zur Seite und schaute ihn an. »Habt Ihr eben tatsächlich ›tst, tst‹ zu mir gesagt, Mylord?«, fragte sie ihn neckend. »Ich glaubte bisher, dass nur Damen eines gewissen Alters diesen Ausdruck benutzen.«
Mit offenem Mund starrte er sie lange an. »Du hast wirklich keine Angst vor mir, nicht wahr?«, fragte er und schüttelte nachdenklich den Kopf.
Olivia zog unter der Bettdecke die Knie an und schlang die Arme um die Unterschenkel. »Du fragst mich das immer wieder. Warum sollte ich Angst vor dir haben? Bist du ein schlechter Mensch?«
Aus irgendeinem Grund brachte ihn diese Frage aus dem Gleichgewicht. Da stand er, halb nackt und göttlich, und schien tatsächlich über seine Antwort nachdenken zu müssen. Sie runzelte die Stirn. »Ich habe nicht im Scherz gefragt, Mylord.«
»Ich würde mich selbst als ehrenhaft betrachten«, sagte er langsam. »Ich habe recht hohe Maßstäbe hinsichtlich meines eigenen Verhaltens und das meiner Mitmenschen.«
»Natürlich.« Sie nickte. »Du bist ein Gentleman.«
Er sah sie voller Ernst an. »Und hinsichtlich deines Verhaltens als meine Frau.«
Olivia wurde unbehaglich. Sein Tonfall war plötzlich sehr streng. Wieder nickte sie, diesmal etwas langsamer. »Selbstverständlich. Ich bin eine Dame.« Wenigstens würde sie sich große Mühe geben, eine zu sein.
Er schien sich bei ihren Worten etwas zu entspannen, denn er lächelte leicht.
»Dann wünsche ich meiner Dame eine gute Nacht.« Er verneigte sich, und als er mit einer Kerze aus dem Zimmer schritt, verschwand gleichzeitig auch Olivias befriedigendes Wohlgefühl.
4. Kapitel
A ls Olivia wieder erwachte, strömte helles Tageslicht durch die hohen, geschwungenen Fenster und verwandelte alles, was zuvor dunkel und intim gewesen war, in etwas eher Alltägliches, wenn auch sehr Luxuriöses.
Das Rascheln von Stoff lenkte Olivias Aufmerksamkeit Richtung Toilettentisch, wo eine Zofe eines ihrer Kleider aus ihrer Kleiderkiste zog und ausschüttelte.
»Guten Morgen«, grüßte Olivia fröhlich und erwartete ein Lächeln und einen Kommentar dazu, wie der Tag werden würde, so wie sie es von der Dienerschaft Cheltenhams gewöhnt war.
Die Zofe stand still, drehte sich um, neigte gelangweilt den Kopf. »Guten Morgen, Mylady.«
Sie war ein gut aussehendes Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren. Olivia lächelte, um ihr die Befangenheit zu nehmen. »Wie heißt du?«
Das Mädchen stand auf einmal stocksteif da. »Man nennt mich Petty, Mylady.« Sie sprach mit tonloser Stimme, und ihr Blick war alles andere als freundlich. »Die Hausdame hat mich Euch gestern vorgestellt.«
Olivia zögerte. »Ja, danke für die frischen Kohlen, Petty.« Sie deutete auf das flackernde Feuer im Kamin. »Mein Zimmer
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