Der gehetzte Amerikaner
schweres Gewicht am Arm, als er
die Treppe zu ihrer Wohnung emporstieg. Die Wirkung der Droge schien
sich noch verstärkt zu haben. Er trug sie in ihr Schlafzimmer und
streifte der halb Bewußtlosen schnell die Kleider vom schlanken
Körper.
Anne erschauerte leicht unter dem kühlen Luftzug,
der vom offenen Fenster her wehte. Brady schlug die Decken zurück
und legte Anne ins Bett. Ihr Haar fiel breit über das weiße
Kissen und bildete einen dunklen Strahlenkranz um ihr Gesicht. Sie
stöhnte einmal leise auf; da beugte er sich nieder und
küßte sie. Dann verließ er leise das Zimmer.
Im Handschuhkasten des Wagens hatte er einen Stadtplan
von London liegen, auf dem er die Baker Street sehr schnell fand. Mit
dem Wagen würde er nicht länger als fünfzehn Minuten
brauchen. So stürzte er sich denn in den Verkehr, fuhr an den
Kensington Gardens vorbei und kam hinaus auf die Bayswater Road. Ein
unbestimmter Instinkt befahl ihm, den Wagen in der Nähe der
U-Bahn-Station Bond Street zu parken; den Rest des Weges ging er dann
zu Fuß.
Carley Mansions war ein imponierender Häuserblock mit
hübschen modernen Wohnungen, an der Ecke Baker Street und
Marylebone Road gelegen. Das Haus sah sehr vornehm aus. Im Eingang hing
ein seriöses Goldglas-Schild mit den Namen der Bewohner. Miss Jane
Gordon hatte die Wohnung Nr. 8 im vierten Stock.
Im Hausflur saß hinter einem
Glasfenster ein uniformierter Portier und schmökerte in einer
Illustrierten. Während Brady ihn noch durch die Scheibe der
Haustür musterte, läutete plötzlich das Telefon; der
Portier nahm den Hörer auf und drehte sich schwerfällig um.
Er lehnte dabei mit dem Rücken gegen den Schalter und konnte den
Eingang nicht übersehen.
Brady zögerte nicht eine Sekunde. Er stieß
die schwere Glastüre auf, schlich sich lautlos über den
dicken Läufer im Flur und stieg rasch die Treppe empor.
Auch das Innere des Hauses und seine Einrichtung
wirkten brandneu, und die Geräuschdämpfung war perfekt. Die
Ruhe, die hier herrschte, erschien ihm fast unnatürlich,
während er in den vierten Stock emporstieg.
Die Wohnung Nr. 8 war die letzte auf dem Korridor.
Brady klopfte leise an die Tür und wartete. Zunächst erhielt
er keine Antwort. Er klopfte wieder und versuchte dann den
Drücker. Die Tür ließ sich ohne Schwierigkeiten
öffnen.
In der Wohnung brannten alle Lampen, aber kein Mensch
war zu sehen. Mehrere breite Stufen führten hinab in einen
luxuriös eingerichteten Raum, dessen eine Seite ganz aus Glas
bestand und einen wundervollen Ausblick auf London gewährte.
Durch das Servierfenster konnte Brady die Küche
sehen. Sie lag in der Dunkelheit, aber die Schlafzimmertür stand
einen Spaltbreit offen, und dort brannte Licht.
Als erstes fiel ihm ein Schuh auf, der in der Mitte
des Zimmers auf dem Teppich lag. Er war schmal und wirkte sehr teuer.
Der hohe, dünne Absatz sah merkwürdig leblos aus…
Als nächstes erblickte er dann ihren Körper.
Sie lag, mit dem Gesicht auf dem Fußboden, am Ende ihres Bettes.
Die Kleidung war ihr halb vom Leibe gerissen; eine ihrer schlanken
Hände hatte sich in den Teppich gekrallt. Irgend jemand hatte sie
von hinten zweimal aus allernächster Nähe in den Rücken
geschossen. Nach dem Aussehen der Wunden zu schließen mußte
es eine großkalibrige Pistole gewesen sein.
Sie war erst ganz kurze Zeit tot, soviel
war deutlich zu sehen. Ein schwacher Pulvergeruch hing noch immer in
der Luft. Brady seufzte schwer auf, kniete sich dann nieder und drehte
sie um. Der Anblick ihres Gesichtes versetzte ihm förmlich einen
Schlag in die Magengrube – und zwar einen Tiefschlag, der ihm
für einige Sekunden allen Atem raubte, denn dieses Mädchen
war nicht Jane Gordon!
Dies hier war die Frau, die er nur für so kurze
Zeit unter dem Namen Marie Duelos kennengelernt hatte! Es war die Frau,
deren wundenbedeckten Körper er zum letztenmal im Schlafzimmer
ihrer Wohnung in Chelsea gesehen hatte! Es war die Frau, die er
angeblich ermordet haben sollte, und wegen der er zum Tode verurteilt
worden war!
Für einen kurzen, schrecklichen Augenblick
glaubte er den Verstand zu verlieren, aber dann dämmerte ihm ganz
plötzlich die Wahrheit, oder jedenfalls ein Teil davon –
wenn ihm auch noch nicht alle Zusammenhänge klar waren.
Er richtete sich wieder auf und wollte
aufstehen, doch da spürte er plötzlich eine leise Bewegung
hinter sich. Er wollte sich umdrehen und den Revolver aus der
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