Der Gejagte
Schlange. Und doch steckte so viel mehr dahinter.
»Dann ist es also tatsächlich so, wie es in den alten Legenden behauptet wird«, murmelte Starkey. Auch er betrachtete Romegas’
Hals, aber in seinem Blick war ein eher wissenschaftliches Interesse
zu lesen. »Und das habt Ihr nicht gewusst?«
»Nein«, sagte Andrej, denn er verschmähte das Blut seiner Feinde.
Er war den Verdacht niemals ganz losgeworden, dass Abu Dun es
vielleicht ein- oder zweimal getan hatte, am Anfang, kurz nachdem
er selbst zu einem Vampyr geworden war, doch sie hatten niemals
darüber geredet. Es war nicht nötig, das Blut eines anderen zu trinken, um ihm seine Lebenskraft zu rauben. Die Vampyre, die es taten,
fanden einfach nur Gefallen an diesem grausamen Ritual, dessen
einziger Zweck darin bestand, Angst in die Herzen der Menschen zu
säen. Zumindest hatte Andrej das bis zu diesem Tag angenommen.
»Dann bringt ihn in eine Zelle«, sagte er. »Lasst ihn gut bewachen.
Niemand darf mit ihm reden. Und lasst nach den beiden Männern
suchen, die bei ihm waren.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Abu Dun. »Sie sind tot.«
Ein kurzer, aber heftiger Ausdruck von Zorn huschte über La Valettes Gesicht, doch er war offensichtlich noch immer viel zu erschrocken, um seiner Wut Ausdruck zu verleihen.
»Bist du sicher?«, fragte er lediglich. »Könnte es nicht sein, dass sie
ebenfalls…«
»Nein«, unterbrach ihn Abu Dun ruhig. »Selbst einer von unserer
Art stirbt, wenn man ihm das Herz herausreißt.«
Sonderbarerweise wirkte La Valette enttäuscht, aber es dauerte nur
einen Herzschlag, bis Andrej klar wurde, warum. Es hatte nur wenig
mit Mitleid für die beiden getöteten Soldaten zu tun. Vielmehr hatte
der Großmeister vermutlich darauf gehofft, dass auch sie Opfer des
Dämons geworden und so nicht wirklich für das verantwortlich gewesen waren, was sie taten. Die Vorstellung, dass zwei Männer, die
unter seinem Befehl standen, über eine wehrlose Frau hergefallen
waren und somit Schande über den Orden gebracht hatten, musste für
ihn so entsetzlich sein, dass ihm der Gedanke, sie an den Teufel persönlich verloren zu haben, noch erträglicher erschien.
Andrej sah noch einmal auf Romegas’ Hand hinab. Die Wunde hatte mittlerweile aufgehört zu bluten, und er konnte erkennen, wie sie
allmählich zu verschorfen begann. Der Heilungsprozess war nicht
einmal annähernd so schnell, wie er es bei Abu Dun oder ihm gewesen wäre, aber doch auffällig schneller, als er bei einem normalen
Sterblichen hätte sein dürfen.
»Vielleicht solltet Ihr gehen und eine Zelle für ihn vorbereiten, Sir
Oliver«, sagte er. »Mit einer stabilen Tür und festen Ketten an den
Wänden.«
»Und dicken Mauern«, fügte Abu Dun kalt hinzu, »damit man seine
Schreie nicht hört.«
24. Mai 1565, am späten Nachmittag in Julias Haus
Zum ersten Mal seit einer guten Woche hatte sich der Wind gelegt.
Das Meer lag glatt wie ein riesiger kupferfarbener Spiegel da, der das
gleißende Licht der Sonne reflektierte und die unbarmherzige Glut
des Nachmittags noch zu verstärken schien. Wie so oft an einem besonders heißen Tag kamen Andrej alle Geräusche sonderbar gedämpft vor, als hätte er Wasser in den Ohren. Die Bewegungen der
Menschen ringsum erschienen ihm auf seltsame Weise abgehackt
und zugleich träge, so, als beobachte er die Vorführung eines nicht
besonders talentierten Puppenspielers.
Aber vielleicht lag es auch nur an seiner Müdigkeit.
Andrej hätte nicht sagen können, wann er das letzte Mal geschlafen
hatte - ob vor zwei Tagen oder vor dreien oder vor einem Monat.
Und wenn er sich nicht konzentrierte, begannen die Ereignisse der
zurückliegenden Tage in seinem Kopf durcheinander zu geraten, so,
wie sich auch das Bild, das sich ihm von der türkischen Flotte bot,
jedes Mal ein bisschen geändert zu haben schien, wenn er blinzelte.
Die Anzahl der Schiffe, die vor der Bucht kreuzten, hatte noch weiter
zugenommen, doch nicht einmal dessen war er sich vollkommen
sicher. Wenn man nur lange genug auf diesen gleißenden Spiegel
starrte, dann fing man an, alles Mögliche zu sehen; selbst Dinge, die
gar nicht da waren.
Andrej versuchte vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken, fuhr sich
mit einer leicht zitternden Hand über die Augen und trat endlich von
dem schmalen Fenster zurück, von dem aus er das Meer und das
Treiben in dem schmalen Ausschnitt der Straße, der von dort aus zu
sehen war, beobachtet hatte. Als er sich umdrehte,
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