Der Gejagte
eine nicht enden wollende schnurgerade
Linie bildeten. Sobald das jeweils vorderste Schiff fast auf Schussweite herangekommen war, gab es einen einzelnen Schuss aus seinem Buggeschütz ab, der nicht die mindeste Chance hatte, der Festung auch nur nahe zu kommen, und drehte dann abwechselnd nach
rechts und links ab. Wenn die riesigen Kriegsgaleeren bei ihrem
haarsträubend engen Wendemanöver an dem Punkt angelangt waren,
an dem sie der Festung am nächsten waren, gaben sie eine volle
Breitseite aus ihren Zwölfpfündern ab. Die wenigsten dieser Schüsse
trafen den Felsen oder gar die Festung, zumal der Schusswinkel
schräg nach oben immer ungünstiger wurde, je weiter sie sich dem
Land näherten. Doch wenn sie trafen, erbebte das gesamte Vorwerk
jedes Mal wie unter einem Hammerschlag der Götter.
»Sie schießen ihre Kanonen ein«, sagte eine Stimme hinter Andrej.
Er wusste, wem sie gehörte, denn er hatte ihren Besitzer bereits am
Klang seiner Schritte erkannt. Sie sprach so exakt das aus, was er
selbst gerade dachte, dass er den Satz ohne zu überlegen fortführte:
»Das ist die Generalprobe für den großen Angriff.« Der - so schätzte er - spätestens am nächsten Tag beginnen würde.
Pepe di Ruvu hatte Recht: Die Kapitäne der Kriegsgaleeren dort unten wussten genau, was sie taten. Sie gaben ihren Kanonieren Gelegenheit zu einem letzten Probeschuss, hielten ihre Schiffe dabei aber
außerhalb der Reichweite der Verteidiger. Was sie erlebten, war allenfalls ein kleiner Vorgeschmack dessen, was in wenigen Stunden
über diese Festung hereinbrechen würde. Andrej hatte es aufgegeben,
die Schiffe zählen zu wollen, die das Meer vor ihnen in ein Abbild
des Sternenhimmels verwandelten. Es waren zu viele, das stand jedenfalls fest.
»Was tust du überhaupt hier, Pepe?«, fuhr er, nunmehr direkt an
seinen ehemaligen Geschützmeister von der St. Gabriel gewandt,
fort. »Sollte ein alter Seebär wie du nicht besser ein gutes Stück Holz
unter den Füßen haben und draußen auf dem Meer Jagd auf die Türken machen?«
Pepes Gesicht verdüsterte sich. Andrej konnte trotz der Dunkelheit
den Ausdruck von Schmerz in seinen Augen erkennen.
»Das beste Stück Holz, das ich jemals unter den Füßen hatte, liegt
jetzt auf dem Grund des Hafenbeckens«, antwortete der Neapolitaner. »Aber ich würde in einem leeren Fass und mit nichts anderem
als einer Muskete bewaffnet hinausrudern, wenn man mich nur ließe,
Herr.«
Andrej lächelte flüchtig. Was aus dem Mund jedes anderen Mannes
wie Aufschneiderei geklungen hätte, entsprach bei Pepe der Wahrheit. Und nach allem, was er mit diesem alten Haudegen in den letzten Jahren erlebt hatte, hätte Pepe vermutlich selbst in einem so ungleichen Duell nicht einmal die schlechtesten Chancen.
»Ich weiß«, sagte er. »Und vergiss den Herrn. Ich bin kein Ritter
mehr, wie du siehst.«
Pepes Blick wanderte an seiner Kleidung hinauf und wieder hinab
und blieb schließlich an seinem Gesicht hängen. »Wart Ihr das denn
je?«
Andrej deutete zur Antwort nur ein Schulterzucken an. Pepe gehörte zu den wenigen Menschen auf Malta, die er als Freund betrachtete.
Sie hatten so viel miteinander erlebt und durchgemacht, dass der Unterschied in ihren Rängen am Ende keine Rolle mehr gespielt hatte.
Abgesehen von Abu Dun war der Neapolitaner der Mensch, dem er
am meisten und am vorbehaltlosesten vertraute. Aber es gab ein paar
Punkte, über die sie nie miteinander gesprochen hatten, und das würden sie auch jetzt nicht tun. Er sah Pepe an, dass der seine Frage bereits bedauerte.
»Auch wenn ich kein Ritter mehr bin und erst recht kein Kapitän,
der dir befehlen könnte, meine Frage zu beantworten, so wiederhole
ich sie doch: Was tust du hier?«
Wenn Pepe di Ruvu eines mit Leib und Seele war, dann Seemann.
In einer Festung aus Stein musste er sich so wohl fühlen wie ein
Fisch auf dem Trockenen und war vermutlich auch ebenso nützlich.
Pepe machte ein betrübtes Gesicht, als hätte er Andrejs Gedanken
gelesen und wollte sie ihm bestätigen. »Sir Oliver hat mich hierher
befohlen«, antwortete er, »um die Männer an den Kanonen zu unterweisen.« Er wies mit einer Geste zu den Festungsmauern hinauf. In
der Dunkelheit mehr zu erahnen als zu sehen, reckte sich zwischen
jeder dritten oder vierten Zinne das geschwärzte Rohr eines Geschützes aufs Meer hinaus.
Pepe zog eine Grimasse und fuhr fort: »Aber es ist sinnlos. Man
kann einem Fisch nicht das Fliegen beibringen und einem
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