Der Gejagte
Vogel
nicht das Tauchen. Hätte ich nur zehn Schiffe wie die St. Gabriel…« Er seufzte tief und schüttelte ein paar Mal den Kopf.
Andrej musste lächeln »Jetzt übertreibst du, mein Freund«, sagte er.
»Da draußen sind mehr als hundert Schiffe. Und jedes einzelne ist
fünfmal so groß wie die St. Gabriel.«
»Wir wären dort draußen jedenfalls hundertmal nützlicher als hier«,
erwiderte Pepe stur. »Was nützen die dicksten Mauern? Sie lassen
sich nicht bewegen und sie lassen sich auch nicht mit ein paar Brettern und ein wenig Teer reparieren, sind sie einmal eingestürzt! Wir
sitzen hier wie die Tontauben auf dem Schießstand.«
Seine Worte versetzten Andrej einen tiefen Stich. Sie waren frei
von Vorwurf, und doch hatte er mehr und mehr das Gefühl, Pepe
verraten zu haben. Und zugleich auch, selbst im Stich gelassen worden zu sein. Ganz gleich, wie dieser verrückte Kampf, auf den Abu
Dun sich eingelassen hatte, ausgehen würde - für den Nubier und ihn
endete dieser Krieg an diesem Tag, in dieser Nacht. Entweder würden sie bei dem Versuch sterben, den Dämon unschädlich zu machen, oder es würde ihnen gelingen und sie würden diese Insel verlassen, noch bevor die Sonne aufging. Es gab nur diese beiden Möglichkeiten. Es machte Andrej nichts aus, seine ehemaligen Kameraden zu verlassen, die Menschen auf der Insel, ja, selbst La Valette
und den Engländer. Dieser Krieg würde ohne ihn und Abu Dun stattfinden.
Er hatte in den letzten Tagen begriffen, wie groß der Unterschied
zwischen ihnen beiden und all den anderen Menschen war. Wenn
man ein Leben lebte, das nach Jahrhunderten zählte, so wie das anderer Menschen nach Jahren, dann begannen selbst Menschen, mit denen man Jahre verbracht hatte, letzten Endes nicht mehr zu sein als
flüchtige Bekannte. Aber es gab Ausnahmen und Pepe gehörte gewiss dazu; so wie Pedro dazugehört hatte.
»Ihr braucht Euch keine Vorwürfe zu machen«, sagte Pepe unversehens.
»Vorwürfe?«, wiederholte Andrej verwirrt. Sah man ihm seine Gedanken so deutlich an?
»Weil Ihr fortgehen werdet«, antwortete Pepe. »Ich würde dasselbe
tun, wenn ich könnte.«
Andrej war fassungslos. »Woher…?«, begann er verwirrt.
»Ich habe Euren Freund getroffen«, beantwortete Pepe seine nicht
zu Ende ausgesprochene Frage.
»Abu Dun?« Andrej spannte seine Muskeln an. »Wann? Wo?«
»Zwei Stunden nach dem Mittagsgeläut unten am Hafen«, erwiderte Pepe. Er klang verwirrt, als sei er ganz selbstverständlich davon
ausgegangen, dass Andrej das wusste. »Er hat mich gebeten, ein paar
Dinge für ihn hinüber zur Festung zu bringen. Und er hatte ein paar
Fragen.«
»Zur Festung?« Andrej sah unwillkürlich zum Turm hinauf, aber
Pepe schüttelte den Kopf.
»Nicht hierher.« Er machte eine entsprechende Handbewegung.
»Hinüber nach St. Elmo. Er meinte, ich sei der Einzige, der es bei
Tageslicht vielleicht schaffen könnte, dort hinüberzusegeln, ohne
versenkt zu werden.«
»St. Elmo?«, vergewisserte sich Andrej, plötzlich aufgeregt. »Bist
du sicher?«
»Selbstverständlich«, entgegnete Pepe in beleidigtem Tonfall. Er
fuhr fort: »Vorher hat er mir allerdings einige sehr seltsame Fragen
gestellt.«
»Was für Fragen?«
Pepe hob fast hilflos die Schultern. »Er wollte wissen, wo das Meer
tiefer ist, hier oder am Fuße von St. Elmo.«
»Lass mich raten«, vermutete Andrej. »Bei St. Elmo?«
Pepe nickte. »Ja«, antwortete er. »Die Hafeneinfahrt ist flach, aber
unmittelbar unter der Festung fällt der Fels lotrecht ab. Ich weiß
nicht genau, wie tief das Meer dort wirklich ist. Ich glaube, niemand
weiß es. Man hat hundert Faden gemessen, ohne den Meeresgrund zu
erreichen.«
»Und was solltest du für ihn auf den Turm bringen?«, erkundigte
sich Andrej. Pepe teilte es ihm mit und Andrejs Verwirrung stieg
weiter an. Nichts von Abu Duns Wunschliste war außergewöhnlich,
aber es war auch nichts dabei, das etwas auf einer Festung zu suchen
gehabt hätte, und schon gar nichts, das Andrej im Kampf gegen einen
nahezu unverwundbaren Gegner eingesetzt hätte.
Er sah zum Himmel hoch, um an der Position der Sterne die Zeit
abzulesen, aber die Wolkendecke war eher noch dichter geworden.
Er konnte nur schätzen, dass ungefähr eine Stunde bis Mitternacht
blieb, vielleicht etwas mehr.
»Was habt Ihr?«, fragte Pepe. Er klang beunruhigt. Offensichtlich
sah man Andrej seine Verwirrung immer stärker an. Zur Überraschung des kleingewachsenen Neapolitaners lächelte Andrej jedoch
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