Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
er an den Rand einer breiten Felsspalte gelangte. Und dort lag er:
ein junger Mann, sorgsam vor den Blicken eines jeden verborgen,
der weiter oben den Pfad entlangritt.
Sein Haar bewegte sich mit den Wellen rings um sein Gesicht. Die
Augen, noch im Tod angstvoll aufgerissen, starrten durch das klare
Wasser zu Andrej und Abu Dun hinauf, doch ihr Blick war leer. Jemand hatte einen großen Stein auf ihn gerollt, damit das Wasser ihn
nicht davontrieb. Das weiße Kreuz auf seinem roten Wappenrock
war blutverschmiert, seine Kehle eine einzige klaffende Wunde.
Abu Dun trat rasch einen Schritt zurück und Andrej hörte das
scharrende Geräusch, mit dem sein Krummsäbel aus der Scheide
glitt. Auch seine Hand wollte zum Gürtel wandern, hielt aber auf
halbem Wege inne. Stattdessen ließ er sich auf die Knie herabsinken
und streckte die Arme aus, um den Stein von der Brust des Toten
herunterzuwälzen. Es gelang ihm nicht. Erst als er behutsam ins
Wasser hineinstieg und beide Hände zu Hilfe nahm, gelang es ihm,
den Stein zu bewegen. Ein gewöhnlicher Sterblicher hätte ihn keine
Handbreit von der Stelle bekommen.
Andrej fluchte lautlos in sich hinein, als er sich die Hand an den
nadelspitzen Stacheln eines Seeigels aufriss, der zwischen den Felsen
verborgen gewesen war. Die Wunde blutete kurz und verschwand
dann wieder, noch bevor er die Hand aus dem Wasser ziehen konnte,
doch die wenigen Tropfen färbten das Wasser um den Toten herum
rot. Wie von Geisterhand bewegt pendelten die Arme des Jungen in
der kaum merklichen Strömung. Das Wasser, das über sein Gesicht
hinwegwogte, verlieh den erstarrten Zügen die unheimliche Illusion
von Leben. Ohne dass Andrej hätte sagen können, warum, jagte ihm
der Anblick einen kalten Schauer über den Rücken.
»Wir sollten ihn liegen lassen«, sagte Abu Dun. »Bei dem, was hier
bald geschieht, macht ein einzelner Toter mehr oder weniger keinen
Unterschied.«
Andrej sagte nichts dazu, sondern bemühte sich nur umso verbissener, den Felsbrocken vom Körper des Toten herunterzurollen.
Durch den beengten Raum behindert, brauchte er lange, um den Toten aus seiner sonderbaren Lage zu befreien. Nachdem er es endlich
geschafft hatte, stieg er wieder auf den Felsen hinauf und zerrte den
leblosen Körper, der Zentner zu wiegen schien, ächzend hinter sich
her. Abu Dun rührte keinen Finger, um ihm zu helfen, sondern stand
mit leicht gespreizten Beinen und halb erhobener Waffe da, obwohl
es weit und breit niemanden gab, gegen den er sich hätte verteidigen
müssen. Andrej verspürte einen schwachen Anflug von Ärger, verbiss sich aber jede entsprechende Bemerkung. Im Grunde hatte Abu
Dun Recht. Wäre es umgekehrt gewesen, hätte er auch nicht anders
gehandelt.
»Sieh dir mal sein Gesicht an«, sagte er, nachdem er den Toten vor
sich abgelegt und - einem Impuls folgend, den er sich selbst nicht
erklären konnte - dessen Arme über der Brust gekreuzt hatte. Abu
Dun kam gehorsam einen Schritt näher und beugte sich vor. Andrej
hätte direkt in die Sonne blicken müssen, um zu ihm aufzusehen,
aber das war gar nicht nötig. Er spürte, wie der Nubier erschrocken
zusammenfuhr.
»Als hätte er den Leibhaftigen gesehen«, murmelte Abu Dun.
Andrej wunderte sich zwar ein wenig über die Wortwahl des Nubiers, doch er selbst hätte es nicht treffender ausdrücken können.
Unter Wasser war die Miene des Toten nicht richtig zu erkennen
gewesen, nun aber sah er, dass dieser noch weitaus jünger war, als es
bisher den Anschein gehabt hatte. Er war kaum mehr als ein Kind,
keinen Tag älter als Pedro. Der Ausdruck abgrundtiefen Entsetzens,
der sich für alle Zeiten in sein Gesicht eingegraben hatte, ging weit
über bloße Todesangst hinaus.
»Schau dir seinen Hals an«, murmelte Abu Dun.
Andrej verspürte ein eisiges Frösteln, als sein Blick über die Kehle
des toten Jungen tastete. Was unter Wasser, halb verborgen unter
spiegelndem Licht, wie eine einzige Wunde ausgesehen hatte, entpuppte sich als vier dünne, tiefe Schnitte, die den Jungen nahezu enthauptet hatten. Die Wunde erinnerte mehr als alles andere an einen
Krallenhieb.
Und genau das, dachte Andrej schaudernd, war sie auch.
»Welches Tier hinterlässt solche Verletzungen?«, fragte Abu Dun
mit versteinertem Gesicht. Als ob er die Antwort nicht wüsste.
Trotzdem erwiderte Andrej leise: »Ein Bär? Sieht man einmal davon ab, dass es hier keine Bären gibt.« Er zuckte mit den Schultern
und seine Stimme wurde noch

Weitere Kostenlose Bücher