Der Gejagte
leiser. »Oder ein Dämon?«
Er bedauerte sofort, das Wort auch nur ausgesprochen zu haben.
Manche Dinge blieben besser ungenannt, denn sie gewannen Substanz und Einfluss, wenn man ihnen einen Namen gab.
Abu Dun richtete sich wieder auf und drehte sich einmal um sich
selbst. Sein Blick tastete misstrauisch über die zerklüftete Küstenlinie, suchte die Schatten und Felsspalten des Kliffs ab. Andrej tat dasselbe, wenn auch auf andere Weise. Seine Vampyrsinne griffen hinaus in die für Menschen unsichtbare und unfühlbare Welt, suchten
nach einem Zeichen, das die Präsenz des anderen verriet, doch sie
fanden ebenso wenig wie Abu Dun.
Nach einer Weile gab er es auf. »Hilf mir«, verlangte er.
Zusammen mit Abu Dun, der seinen Säbel nur widerwillig einsteckte und immer nervöser die Küstenlinie über ihnen absuchte, hob
er den reglosen Körper auf und trug ihn zurück zu dem schmalen, nur
wenige Schritte messenden Sandstrand am Fuße der Steilküste. Behutsam ließen sie ihn dort zu Boden sinken.
Andrej zögerte einen Moment und ließ sich dann neben ihm auf die
Knie hinab, um dem Jungen mit einer fast zärtlichen Geste die Augen zu schließen. Er fühlte sich schuldig. Dieser Junge war seinetwegen gestorben. Nicht wegen des Krieges, nicht weil er etwas gesehen hatte, was nicht für seine Augen bestimmt gewesen war, nicht
weil er irgendetwas getan hatte. Er war zum Opfer einer erbarmungslosen Kreatur geworden, für die ein Menschenleben weniger zählte
als der Schmutz unter ihren Füßen. Ein rasender Zorn überkam Andrej. Ihm war klar, dass das genau das war, was sein Gegner mit diesem grausamen Geschenk hatte erreichen wollen. Er kämpfte seine
Wut nieder, denn er wusste, dass ihm Zorn in dieser Situation nur
schaden konnten. Dennoch blieb ein Gefühl tiefer Bitterkeit und Leere zurück, eine Hilflosigkeit, die noch schlimmer war als der
Schmerz, den er empfunden hatte.
»Er ist hier, nicht wahr?«, stellte Abu Dun fest.
Andrej sah nicht zu ihm hoch, doch er spürte, dass sich der Nubier
weiter langsam im Kreis drehte und sein Blick dabei unentwegt die
gezackte schwarze Linie absuchte, die die Klippen gegen den strahlend blauen Himmel bildeten. Er konnte den Dämon so wenig spüren
wie bisher, aber er wusste, dass er irgendwo in der Nähe war und sie
beobachtete.
»Ja«, sagte er knapp. Dann stand er auf, hob in hilflosem Zorn die
geballten Fäuste gen Himmel und schrie, so laut er konnte: »Zeig
dich! Komm raus, du verdammter Feigling! Oder reicht dein Mut
nur, um es mit einem wehrlosen Kind aufzunehmen?«
Er bedauerte seine eigenen Worte schon, bevor er sie ganz ausgesprochen hatte. Natürlich erhielt er keine Antwort. Abu Dun sagte
nichts dazu, aber es war ein Schweigen der eher beredten Art, das
Andrejs Groll noch weiter steigerte.
»Warum tut er das?«, fragte er hilflos. »Warum kommt er nicht
heraus und stellt sich dem Kampf?«
»Vielleicht fürchtet er dich«, erwiderte Abu Dun. Seine Stimme
war frei von Spott, doch Andrej schüttelte sofort entschieden den
Kopf.
»Nein«, sagte er überzeugt. »Er ist stärker als ich. Ich wäre ihm
niemals gewachsen. Vielleicht nicht einmal wir beide zusammen.
Also, warum kommt er nicht her und bringt zu Ende, weshalb er gekommen ist?«
»Weißt du denn, warum er gekommen ist?«, fragte Abu Dun.
»Um mich zu töten.«
»Bist du sicher?« Abu Dun riss seinen Blick von dem Kliff los und
legte nachdenklich den Kopf auf die Seite. »Vielleicht reicht es ihm
nicht, dich zu töten. Vielleicht will er dich leiden sehen.«
»Jetzt komm endlich und kämpf mit mir!«, schrie Andrej noch lauter. Abu Dun schüttelte missbilligend den Kopf. Auch Andrej wusste, wie dumm diese Worte waren. Er hatte schon etliche Kämpfe gewonnen, weil er seine Gegner dazu gebracht hatte, genau das zu tun,
was er nun tat - nämlich sich von ihren Gefühlen beherrschen zu lassen und die Fassung zu verlieren. Der Dämon war dort irgendwo.
Gar nicht weit entfernt. Ohne leiser zu werden, fuhr er fort: »Ich stelle mich dir allein, hörst du? Abu Dun wird sich nicht einmischen.«
»Wird er doch«, sagte Abu Dun, aber Andrej fuhr mit einer heftigen Bewegung herum und herrschte ihn an: »Nein, das wirst du
nicht. Ich verbiete es dir. Das ist allein meine Sache.«
»Der Meinung bin ich nicht«, entgegnete der Nubier ruhig. »Immerhin sind wir…«
»Ganz allein durch meine Schuld in dieser Lage«, unterbrach ihn
Andrej. »Es ist genug, Abu Dun. Wir sind seit langem auf der Flucht,
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