Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gekreuzigte Teufel

Der gekreuzigte Teufel

Titel: Der gekreuzigte Teufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong'o
Vom Netzwerk:
auf eine Menschenmenge. Diese hatte sich um den Körper eines Mannes angesammelt, der von einem vorbeifahrenden Zug erfaßt und völlig zermalmt worden war. Konnte man dies noch einen Körper nennen, oder war es einfach zwischen den Schienen verstreutes, zerhacktes Fleisch, Blut und Knochen? Niemand konnte mehr erkennen, wer der Mann gewesen war oder auch, wie der Körper lebend wohl ausgesehen hatte. Wariinga war zumute, als zerschnitten ihr Rasierklingen die Eingeweide, ihr wurde übel, sie wollte sich erbrechen, und sie rannte nach Hause und ließ ihre Kusinen an der schrecklichen Unfallstelle zurück. Wariinga hatte sich schon immer davor gefürchtet, Blut zu sehen. Wenn sie von Sterbefällen oder Beerdigungen hörte, hatte sie schlaflose Nächte und setzte sich mit dem Paradox des Lebens auseinander. Aber daß die menschliche Gestalt von einem Eisenbahnzug völlig vernichtet werden konnte, so, als habe diese Person nie gelebt, wäre nie da gewesen — das war etwas, das Wariinga noch nie gesehen hatte, und wegen dieses grausigen Anblicks benutzte Wariinga diesen Bahnübergang nie mehr.
    So wuchs Wariinga in Nakuru heran, aufrichtig und stets auf der Suche nach dem rechten Weg, so, wie es ihrem Wissen und ihrer Erfahrung entsprach. Ja, so war das damals, Wariinga! Und so war es, Jacinta! Ja, so war es, bis sie in die dritte Klasse kam.
    Nun hatten sich ihre Brüste entwickelt, und ihr Haar war lang und glänzend schwarz geworden. Ihre Wangen waren erblüht — zart und köstlich wie Früchte in der warmen Sonne.
    Der Mann, der schuld daran war, daß Wariinga vom rechten Weg abkam — von dem Weg, den die Bauern schon immer gegangen waren — und auf den Weg der Kleinbürger vom Clan der Krawattenträger geriet, war der Mann ihrer Tante, den Wariinga Onkel nannte.
    Der Onkel gehörte zu jenen, die, um ihre eigne Haut zu retten, treu den Weißen gedient hatten. Nach der Unabhängigkeit traten genau diese Leute das Erbe der Weißen im Geschäftsleben und im Land- und Grundbesitz an. Aber dem Onkel war nicht so viel Glück beschieden wie anderen. Sein Gehalt erlaubte es ihm nicht, seine Ambitionen zu erfüllen. Sein Gehalt reichte gerade aus für Nahrung und Kleidung, die Schulgelder und die häuslichen Ausgaben. Aber trotz der bescheidenen Umstände lebte er gern über seine Verhältnisse — er suchte die Gesellschaft jener, die auf der Erfolgsleiter schon höher gestiegen waren. Diese Gesellschaft bestand aus einigen Reichen aus Njoro und Ngorika. Seine reichen Freunde nahmen ihre Drinks im Sportsman's Corner , im Stag's Head Hotel oder in Clubs und Hotels, die früher den Europäern vorbehalten waren.
    Ihr Onkel glaubte, man müsse die Gesellschaft der Reichen suchen, um selbst reich zu werden; man müsse nur eifrig suchen, und der Reichtum ließe sich finden; er glaubte, daß der Furz der Reichen nie stinke. So kümmerte es ihn nicht, wenn die Reichen ihn herumkommandierten, wenn sie ihm die Fingerspitzen reichten, anstatt ihm die Hand zu schütteln, oder wenn sie ihn auf Botengänge schickten, so, wie jene vorkolonialen ringetragenden Feudalherren ihre Knechte umherschickten.
    Vielleicht weil es ihm offensichtlich nichts ausmachte, die Fürze der Reichen einzuatmen, gelang es ihm schließlich doch, einige Krümel aufzupicken. Ein reicher Mann aus Ngorika verschaffte ihm ein Haus, das er auf Abzahlung kaufen konnte, ganz in der Nähe der Kibaacia Siedlung, zweiter Bauabschnitt, und machte ihn dann mit einem Bankdirektor bekannt, der ihm Geld für die ersten Raten lieh. Derselbe reiche Mann aus Ngorika besorgte ihm ein Stück Land in der Nähe von Sambugo.
    Eine Hand wäscht die andere — so lautet das Sprichwort. Geschenke erhalten die Freundschaft. In diesem Sinne fand derOnkel das Glück nicht einfach auf der Straße. Oh nein, er hatte dem Reichen Alten Mann aus Ngorika ein bißchen »Kalbfleisch« oder ein »Küken« dafür versprochen. Wariinga sollte das Küken sein, dem die Federn einzeln ausgerupft würden, bis das Fleisch nackt und bloß lag, weiche Nahrung für einen zahnlosen alten Mann. Wenn die Weißen alt werden, essen sie Kalbfleisch.
    Wariinga wußte jedoch nicht, daß man sie bereits verkauft hatte, denn sie rannten keineswegs hinter ihr her wie ein verspäteter Fahrgast hinter einem Bus, oder wie jemand, der auf ein Fahrrad springt. Nein, sie begannen langsam, wie bei einem heißen Gericht, zuerst am Tellerrand zu essen — vorsichtig, mit den Fingerspitzen —, um dann schließlich alles zu

Weitere Kostenlose Bücher