Der Gesandte der Götter (German Edition)
Unrecht verschleierten nun Tränen Chirons Blick, als er in das bleiche Gesicht des Bruders sah, den er einst so sehr geliebt hatte. Menas‘ Züge waren schmerzverzerrt und sein brechender Blick war erfüllt mit grenzenlosen Entsetzen. Seinen Mund öffnete sich zu einem Schrei, aber kraftlos entfloh der letzte Atemzug seinen Lippen.
Mit sanfter Bewegung schloss Chiron dem Toten die starren Augen. Dann erhob er sich und blickte voll Trauer auf ihn nieder.
So stand er noch immer stumm und mit tränenblinden Augen, als Loara und Leoris bei ihm anlangten. Wortlos zog Leoris ihn auf das Heerlager zu und Loara schmiegte sich in seinen Arm. Fest drückte Chiron sie an sich, und sie sah den Schmerz in seinem Gesicht.
„Denk an all das, was er dir zugefügt hat“, sagte sie leise. „Er hat den Tod tausendfach verdient!“
„Aber dennoch war er mein Bruder“, antwortete Chiron tonlos, „und ich habe ihn einmal geliebt. – Bringt den Toten ins Lager“, sagte er zu einigen Soldaten, die herbeigeeilt waren, „und bahrt ihn auf. Er soll trotz allem in der Familiengruft ruhen, wenn die Burg wieder in unserer Hand ist.“
Auch von der Burg aus musste man den Ausgang des Kampfes deutlich gesehen haben. Daher erwarteten die Belagerer nun, dass sich das Tor öffnen würde, um die Vereinbarung zu erfüllen, dass bei Menas‘ Niederlage die Belagerten sich ergeben würden.
Doch nichts rührte sich auf der Burg und das Tor blieb geschlossen.
„Das habe ich geahnt!“ sagte Chiron zu Soradan. „Xoras ist nicht so dumm, sich freiwillig in unsere Hände zu liefern, nachdem sein Plan fehlgeschlagen ist. Er weiß genau, dass wir kurzen Prozess mit ihm machen würden, wenn wir seiner habhaft würden, denn er ist die Wurzel allen Übels. Doch was machen wir nun? Unsere Lage ist dieselbe wie vorher, nur dass Menas tot ist und wir es jetzt nur noch mit Xoras zu tun haben. Wie jedoch bekommen wir ihn zu fassen?“
Alle schwiegen ratlos. Es war nicht zu erwarten, dass die Soldaten auf der Burg diese von sich aus übergeben würden. Sie würden sich wohl kaum gegen Xoras‘ Bann wehren können, auch wenn sie genau wussten, dass ihr Herr nun tot war.
„Du musst Rotron um Rat bitten“, schlug Loara vor. „Hier sind menschliche Kraft und Mut an ihren Grenzen angelangt. Wir können nichts mehr tun.“
Chiron schüttelte den Kopf. „Nein, irgendwie widerstrebt es mir, jetzt schon aufzugeben. Lasst uns noch etwas warten. Die Burg läuft uns nicht davon. Vielleicht fällt uns noch eine andere Möglichkeit ein.“
„Die Burg läuft uns nicht davon – das stimmt!“ meinte Leoris. „Aber Xoras könnte entkommen. Er ist ein Magier, vergiss das nicht! Rotron hat sich vor Loaras Augen in Luft aufgelöst. Warum sollte Xoras nicht auch etwas Derartiges fertigbringen?“
„Wenn er auf solche Weise flieht, was sollten wir dagegen unternehmen?“ fragte Chiron.
„Also müssen wir etwas tun, ehe er auf diese Idee kommt“, antwortete der Prinz unwillig. „Oder willst du diesen Erzschurken etwa ungestraft davonkommen lassen?“
„Nein, das will ich bestimmt nicht“, entgegnete Chiron. „Aber wie soll ich ihn daran hindern, wenn ich nicht an ihn herankomme? Die einzige Möglichkeit ist durch den Geheimgang. – Ja, so werde ich es machen! Ich nehme den Umhang und den Schlüssel und dringe ins Schloss ein. Nur so kann ich mich dem Magier unbemerkt nähern. Wenn heute Nacht nur noch die Wächter auf den Wehrgängen wach sind, werde ich es versuchen. Denn jetzt im Moment ist noch alles auf der Burg in Aufruhr, und so könnte leicht jemand entdecken, dass sich irgendwelche Türen öffnen, ohne dass jemand zu sehen ist. Dann wäre Xoras sofort alarmiert.“
„Ich werde dich begleiten“, sagte Leoris.
„Du weißt doch genau, dass das nicht geht!“ widersprach Chiron. „Wir haben ja nur einen Tarnumhang. Wie willst du also ungesehen ins Schloss kommen? Wenn dich das Medaillon auch davor schützt, dass Xoras deine Anwesenheit bemerkt – es verbirgt dich nicht vor seinen Blicken! Nein, ich muss allein gehen! Es gibt keine andere Möglichkeit. Wenn es mir gelingt, Xoras zu töten, sind die Soldaten im Schloss von seinem Bann erlöst und werden sich ergeben.“
„Dann lass mich wenigstens bis in die Verliese mitkommen. Vielleicht brauchst du doch Hilfe und ich kann dir von Nutzen sein“, drängte Leoris.
„Meinetwegen“, gab Chiron nach, „aber du darfst mir auf keinen
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