Der Gesandte des Papstes
führte es zum Mund. Blutstropfen glitzerten auf dem hellen Stoff.
Morra musterte ihn argwöhnisch. Raoul kannte diese Blicke; während seiner Reise hatte er sie hundertfach gesehen. Im besten Fall lag Vorsicht darin, im schlimmsten Ekel und Furcht. Und jedes Mal erinnerten sie ihn an den Abgrund, der vor ihm lag. »Eine Lungenschwäche«, sagte er. »Habt keine Sorge, es ist nicht ansteckend.«
Der Kardinal nickte und sah zur Kutsche. Francescos Leute hatten die Pferde eingespannt. »Seid Ihr auf dem Weg nach Rom?«
»Ja.«
»Dann seid heute mein Gast.«
Die Kutsche rollte eine Weile durch die ländlichen Hügel, bis sie schließlich in eine gut befestigte, von sauber geschnittenen Zypressen gesäumte Straße einbog. Auf einem Obelisken las Raoul die Worte Via Aurelia, und das lärmende Treiben verriet, dass sie sich auf einer bedeutenden Handelsstraße befanden: Ochsenkarren mit Kohle, Melonen oder müden Arbeitern auf den Pritschen fuhren neben Sänften wohlhabender Kaufleute und Würdenträger der Stadt. Morras Kutsche überholte Soldaten des Kirchenstaats, Bauern, Tagelöhner, wandernde Handwerker und Scharen von Männern, Frauen und Kindern aus allen Ländern des Abendlandes, die wie Raoul nach Rom kamen, um die Gräber der Apostel auf dem Vatikanischen Hügel aufzusuchen.
Morra sprach nicht viel. Nachdem sie einige Höflichkeiten ausgetauscht hatten, versank der Kardinal in Schweigen und machte sich Notizen auf einer Pergamentrolle. Raoul störte ihn nicht; er interessierte sich ohnehin mehr für das, was sich vor den Kutschenfenstern abspielte. Gelegentlich sah er in der Ferne das blaue, glitzernde Band des Tiber und, wenn die Straße eine Kurve beschrieb, für einen Augenblick unzählige Türme verschiedenster Formen und Bauweisen, die ein Meer von Dächern überragten. Aufregung erfasste ihn bei dem Gedanken,
dass sein Ziel zum Greifen nah war: Rom, das Herz der Christenheit.
Auf einer Anhöhe vor der Ewigen Stadt stockte der Verkehr. Morra schien an dergleichen gewöhnt zu sein und setzte seine Arbeit ohne Unterbrechung fort. Raoul reckte den Kopf aus dem Fenster und sah, dass das Stadttor am Fuß der Anhöhe zu eng war für die Masse von Fußgängern, Reitern, Wagen und Kutschen, die gleichzeitig hinein- und hinauswollten. Soldaten mussten in das Gedränge eingreifen, was man ihnen mit Beschimpfungen und Flüchen dankte.
Raouls Ärger über die Verzögerung verflog schlagartig beim Anblick der Stadt, die sich vor ihnen auf Hügeln und Tälern ausbreitete. Rom war die gewaltigste Kapitale, die er je gesehen hatte; Metz und Nancy nahmen sich dagegen wie Bauerndörfer aus. Die Geschichten über die Vielzahl der Kirchen waren nicht übertrieben. Jedes Viertel, jede Straße schien ein eigenes Gotteshaus zu haben, hinzu kamen Paläste, weiß schimmernd in der Mittagssonne, riesige Badehäuser, Aquädukte aus der Zeit der Kaiser, ausgedehnte Plätze, abertausende Wohnhäuser, die verschachtelte Karrees bildeten, und im Zentrum, wie ein Auge, das Oval des Kolosseums. Rauch aus unzähligen Kaminen stieg gemeinsam mit dem Lärm von Werkstätten, Marktausrufern, blökendem Vieh, fluchenden Händlern, die mit ihren Karren nicht vorankamen, zu einem Himmel auf, der so blau und wolkenlos war, als würde Gott über der Wohnstatt seines Stellvertreters nicht den kleinsten Makel dulden.
Die Soldaten leisteten gute Arbeit, und wenig später rollte die Kutsche durch das Tor. Raoul nahm jede Einzelheit in sich auf, und schon bald regte sich leise Enttäuschung in ihm. Aus der Nähe besehen verlor Rom seinen Glanz. Die schimmernden Paläste erwiesen sich nicht selten als heruntergekommene Bauten, in denen nur noch Bettler und Tauben hausten. Auch viele gewöhnliche Wohnhäuser waren verlassen und verfielen, dasselbe galt für die Verwaltungsgebäude der Kirche. Überfüllt
waren nur die Hauptstraßen und die Brücken über den Tiber; in vielen Gassen, an denen sie vorbeikamen, sah Raoul keinen einzigen Menschen, nur hin und wieder einen streunenden Hund. Er erinnerte sich an das, was der französische Spielmann berichtet hatte: Sieben Kreuzzüge hatten Rom zur Ader gelassen, sodass vom Reichtum früherer Jahrhunderte kaum noch etwas übrig war. Zwar hatte Papst Bonifatius’ Jubeljahr vor drei Jahren zahllose Pilger in die Ewige Stadt gelockt und der florierende Ablasshandel Unmengen von Gold in die Schatzkammern des Lateranpalasts gespült. Doch hatte dies bei Weitem nicht ausgereicht, die Kosten von
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