Der Gesandte des Papstes
zweihundert Jahren Krieg hereinzuholen.
Die Viertel um das Forum, der eigentliche Stadtkern, waren in einem besseren Zustand und ließen die vergangene Pracht Roms erahnen. Morras Anwesen lag auf einem niedrigen Hügel oberhalb des Kolosseums, mit dem Tiber im Rücken und am Rand eines ummauerten Gartens. Es war groß und demonstrierte Macht, aber auf eine schlichtere Weise als die Häuser anderer Kirchenherren, die Raoul auf dem Weg durch die Stadt gesehen hatte. Die Kutsche fuhr durch einen Torbogen in einen Innenhof ein, den ein zweistöckiger Säulengang umlief. Der Weg bildete ein Kreuz; Eingänge führten zu den vier Flügeln des Hauses. Auf den nichtgepflasterten Teilen des Hofs wuchsen duftende Rosenhecken und zwei ausladende Orangenbäume.
Morra sorgte dafür, dass Raoul ein Gästezimmer bekam, bevor er weiter zum päpstlichen Palast fuhr. Der Kardinal schien nichts von Prunk zu halten. Das Innere des weitläufigen Gebäudes - wenigstens der Teil, den Raoul zu Gesicht bekam - war von einer schlichten Schönheit. Ein minderjähriger, schweigsamer Diener namens Marco bereitete ein Bad vor, während sich der Gast seines Herrn mit süßem, toskanischem Wein und frischem Obst stärkte. Marco nahm Raouls Waffenrock zum Waschen mit und legte ihm ein weißes Leinenhemd und eine
Hose aus dünnem, weichem Leder hin, wofür Raoul ihm dankbar war. Er hätte sich unwohl gefühlt, seinem Gastgeber in vor Schmutz starrender Reisekleidung gegenüberzutreten.
Sein Zimmer war für hohen Besuch gedacht und entsprechend ausgestattet. Neben dem breiten Bett mit dem Baldachin aus dunkelgrüner Seide stand ein Apparat, von dem Raoul schon gehört hatte, den er aber zum ersten Mal sah: ein Spiegel. Er stieg aus dem Waschzuber, entfernte das Tuch von der ovalen, polierten Kupferplatte in dem Holzgestell und betrachtete sich darin. Fünf Wochen waren seit seinem Aufbruch von Bazerat vergangen. Die schwindende Zeit ließ sich inzwischen auch an seinem Gesicht ablesen. Schatten lagen unter seinen Augen. Seine Haut wurde zusehends blasser, trotz der Maisonne, der er jeden Tag ausgesetzt gewesen war. Die schwarzen Haare und der kurze Kinnbart hoben die Blässe noch hervor. Und nicht nur das Gesicht zeigte Spuren der Krankheit. Seine Schultern waren kantig, unter den Brustmuskeln zeichneten sich leicht die Rippen ab.
So jäh kam der Zorn über ihn, dass er für einen Herzschlag versucht war, den Spiegel zu zerstören. Du verdammter Narr, was hast du geglaubt zu sehen?, dachte er und warf das Tuch über die Kupferplatte. Plötzlich war ihm das Zimmer mit seinen massiven Steinwänden und den geschwärzten Deckenbalken zu eng. Hastig zog er sich an und verließ das Anwesen.
Massen von Menschen schoben und drängten sich durch die verwinkelten Gassen unterhalb des Vatikanischen Hügels. Auf einen Einheimischen kamen zehn Ausländer. Raoul sah Franzosen, Engländer, Kastilier, Portugiesen und Leute aus allen Teilen des Römischen Reichs; er hörte sämtliche Sprachen, die er kannte, und viele, die ihm vollkommen fremd waren. So mannigfaltig wie ihre Herkunft war auch die Standeszugehörigkeit der Pilger: Herrisch dreinblickende Ritter und Edelleute waren ebenso zu sehen wie Unfreie, Bürger und Gruppen von
Mönchen und Nonnen der verschiedensten Orden. Doch bei aller Verschiedenheit einte diese Menschen der Wunsch, in der Basilika auf der Hügelkuppe zu beten. Nicht wenige hatten die weite Reise nach Rom nur aus dem einzigen Grund auf sich genommen, ihr Ansehen in der Heimat zu vermehren. Die meisten jedoch waren voller Verzweiflung oder Sehnsucht, sie wurden von alten Sünden oder neuen Krankheiten gequält und erhofften sich Linderung durch die mächtige Präsenz des Heiligen Geistes. Raoul reihte sich in den unaufhörlichen Pilgerstrom ein und fühlte sich etwas weniger einsam.
Die fünfschiffige, fast tausend Jahre alte Basilika, die auf dem Grab des Apostels Petrus stand, beherrschte das Leonische Viertel mit seinen Herbergen, Garküchen, Brunnenhäusern, Handwerksstuben und Läden wie ein in Stein verewigtes Gebet. Eine gewaltige Treppe führte zu dem Prachtbau hinauf. Auf jeder Stufe drängten sich Männer und Frauen, murmelten ihr Oratio Dominica oder Ave Maria und stiegen die nächste Stufe hinauf, um sich erneut niederzuwerfen. Einmal am Tag musste ein Pilger diesen mühsamen Weg zurücklegen, dreißig Mal im Monat, damit er von allen Sünden reingewaschen wurde. So hatten es ihm die Mönche der Pilgerherberge bei Siena
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