Der Gesandte - Mein Leben fuer Palaestina Hinter den Kulissen der Nahost-Politik
auszurufen – Clinton riet ihm dringend davon ab, Bundeskanzler Schröder drang in ihn, es sein zu lassen, und die übrigen Europäer bliesen in dasselbe Horn. Warte noch ein Jahr, hieß es, dann wird sich eine günstigere Gelegenheit ergeben. Sie ergab sich nicht. Es folgten die Camp-David-Gespräche mit Ehud Barak, und Arafat wurde schmerzhaft bewusst, dass der beste Zeitpunkt zur Staatsgründung verpasst war.
In welcher Verfassung präsentierte sich nun dieser Torso von einem Staatswesen im Jahr 2000?
Seit der Präsidentschaftswahl vom Januar 1996 hatte Arafat eine demokratische Legitimation: Mit 88,1 Prozent der Stimmen hatte er sich gegen seine Gegenkandidatin Samiha Khalil durchgesetzt, eine entschiedene Gegnerin des Abkommens von Oslo. Am selben Tag war die Nationalbehörde gewählt worden, wo al Fatah seither 65 der 88 Sitze einnahm. Beide Urnengänge hatten unter den Augen von 660 Wahlbeobachtern aus aller Welt stattgefunden; Jimmy Carter als Vorsitzendern der Beobachterkommission sprach anschließend von der seriösesten Wahl in der arabischen Welt. Um die Staatsgründung vorzubereiten, wurde sodann eine Kommission mit der Ausarbeitung einer Verfassung beauftragt. Sie sollte nach der Proklamation des Staates verkündet werden; bis dahin fungierte die überarbeitete Charta der PLO als provisorische Verfassung.
Auf Arafat warteten nach seiner Rückkehr andere Aufgaben und eine andere Rolle als bisher. Eine Verwaltung so zu
organisieren, dass sie effektiv und möglichst reibungslos arbeitet, ist ohnehin eine hohe Kunst, und Arafat stand nun vor der noch größeren Herausforderung, einen quasi-staatlichen Verwaltungsapparat beinahe aus dem Nichts zu erschaffen. Und jetzt offenbarte er Schwächen. Er stellte seine Art, Politik zu betreiben, nicht auf die neue Situation ein; er blieb einem Verfahren treu, mit dem er bis dahin erfolgreich gewesen war, das aber unter den geänderten Bedingungen wachsende Probleme verursachte.
Salopp ausgedrückt: Das außerordentliche Vermögen Arafats bestand darin, einen Flohzirkus zusammenzuhalten. Nur ihm konnte es gelingen, die heterogenen und auseinanderstrebenden Kräfte der in alle Winde zerstreuten palästinensischen Gesellschaft unter dem einen Dach der PLO zu versammeln – die Kommunisten, die Nationalisten, die Unabhängigen. Er machte die PLO zu der allein maßgeblichen Plattform, auf der über die Zukunft Palästinas verhandelt wurde. Im täglichen politischen Geschäft bewies er darüber hinaus eine Eigenschaft, die bei Politikern höchst selten anzutreffen ist: Er vermochte es, seine Person, seine Eitelkeit, seinen Stolz, sogar seine Selbstachtung der Sache unterzuordnen. Wenn es seinen politischen Zielen diente, konnte Arafat bis zur Selbstverleugnung gehen. So überwand er alle innerarabischen Konflikte. Wenn Gaddafi ihn beschimpfte, flog er am nächsten Tag nach Tripolis. Wenn Gaddafi ihn warten ließ, dann wartete er eben. Und gleich nach dem Massaker in Jordanien brachte er es über sich, König Hussein die Hand zur Versöhnung zu reichen. Die Palästinenser fluchten und schimpften, aber Arafat ließ sich nie von persönlichen Gefühlen leiten, wenn es darum ging, das Klügste zu tun. Heidemarie Wieczorek-Zeul brachte es einmal auf den Punkt, als sie sagte, Arafat sei der geistig beweglichste Politiker gewesen, der ihr je begegnet sei.
Doch bei aller Selbstverleugnung – Arafat war seit jeher der Dreh- und Angelpunkt der palästinensischen Politik. Eine
andere Rolle ließ sich mit seinem Selbstverständnis nicht vereinbaren. Die Folge war, dass er als Politiker einen autokratischen Regierungsstil pflegte, den er bis zu seinem Tod nicht korrigierte.
Er wollte alles selbst machen. Er konnte nicht delegieren. Er mischte sich in alles ein. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Briefe, die Dokumente, und alles musste er persönlich unterschreiben. Und dann die Unmenge von Leuten, die in seinen Diensträumen in Gaza auf einen Termin bei ihm warteten. Es lief ja alles über ihn. Deshalb konnte er seine Mitarbeiter nach Feierabend auch nicht einfach entlassen. Von 19 bis 21 Uhr gab es eine gemeinsame Sitzung, dann ließ er gegen 22 Uhr einen langen Tisch für dreißig bis vierzig Leute decken und nahm mit allen zusammen ein spätes Abendessen ein. Das war ein Ritual. Er selbst legte zwar keinen großen Wert aufs Essen, aber er liebte es, seine Mitarbeiter zu verwöhnen, sie nach arabischer Sitte womöglich selbst zu füttern. Natürlich schuf es
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