Der Gesang des Wasserfalls
kaufen müssen, bevor sie abreiste, was viel weniger Spaß machte, als sie selbst auszubuddeln.
Als sie da im bleichen Mondlicht stand, ging Madi auf, dass sie unbewusst begonnen hatte, an noch zu erledigende letzte Dinge zu denken. Als würde sie bald abreisen. Und sie erkannte, dass sie diese Entscheidung getroffen hatte, ohne bewusst darüber nachzudenken. Madi musste an eine Passage aus Gwens Buch denken, die sie geschrieben hatte, bevor sie Guyana verließ. Was Gwen da schrieb, hatte Madi berührt, weil sie genauso empfand.
»Ich bin froh, dass es immer noch entlegene Orte auf dieser überfüllten Welt gibt, wo die Feen und Geister Zuflucht finden, wo sich Felsen auf mysteriöse Weise bewegen, die Wälder verzaubert sind, die Bäume einander zusingen und die Flüsse wie lebendiges Gold fließen. Ich bin dankbar, dass ich nie den schrecklichen Tag erleben muss, an dem die Wissenschaft alle Geheimnisse gelüftet hat und die Narben der Zivilisation jeden Winkel der Wildnis überziehen.«
Madi schaute auf, als eine dunkle Limousine am Ende der Mole hielt. Zu ihrer Überraschung stieg Antonio Destra aus, winkte und kam auf sie zu. Er grinste, und sie erinnerte sich an den freundlichen und hilfsbereiten Mann, den sie am Flughafen kennen gelernt hatte, als sie so endlos lange bei der Passkontrolle warten mussten, bis der Beamte sich herabließ, ihre Papiere zu stempeln.
Die Bekanntschaft mit seiner Frau, das Angebot, bei ihnen zu übernachten, statt sich allein nach Georgetown wagen zu müssen, hatten augenblicklich eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt. Ihr hatte seine freundliche Art gefallen, und sie hatte ihm instinktiv vertraut.
Dann dachte sie daran, wie sehr sie sein Verhalten in den folgenden Wochen verwirrt hatte – wie damals, als sie ihn beim Indiohospiz gesehen hatte und er später bestritt, dort gewesen zu sein. Konnte Lady Annabel Recht haben? Arbeitete er wirklich für die CIA ?
»Ich bin Ihnen von Bains Haus gefolgt«, sagte Destra und lehnte sich in seiner entspannten Art neben Madi an die Mole, als sei es vollkommen normal, dass sie sich nächtens an diesem einsamen Ort trafen.
Destra zündete sich eine Zigarette an. »Es wird Zeit, dass Sie und ich uns ein wenig über das Leben unterhalten, und vor allem das Leben im guten alten Guyana.«
»Das gute alte Guyana, wie Sie es nennen, scheint dem Leben nicht gerade förderlich zu sein«, sagte Madi. »Seit ich hier bin, habe ich zu viele Morde gesehen und bin beinahe selbst ermordet worden. Ich weiß nicht, welche Rolle Sie wirklich in diesem Land spielen, Antonio, aber ich weiß, dass Sie mit diesen Morden zu tun hatten. Und ich weiß genaugenommen nicht, warum ich hier stehe und überhaupt mit Ihnen spreche.«
Destra zuckte ungerührt mit den Schultern. »Madi, ich bin nicht hier, um Ihnen etwas anzutun. Ich bin hier, um Ihnen eine Erklärung zu geben, die ich Ihnen eigentlich keinesfalls geben sollte. Aber Sie sind davon betroffen. Sie sind eine intelligente Frau, und ich hoffe, dass Sie, nachdem Sie gehört haben, was ich zu sagen habe, beschließen werden, Guyana für eine Weile zu verlassen. Zumindest bis das Leben hier wieder zur Normalität zurückgekehrt ist, oder zu dem, was man in Guyana als Normalität bezeichnen kann.«
»Ist das ein freundschaftlicher Rat oder eine Drohung?«
»Ich bin Ihr Freund, Madison.«
Sie schaute schweigend über das Wasser und wandte sich dann wieder Destra zu, mit einem gereizten Funkeln in den Augen.
»Dann sagen Sie mir, warum Ernesto St. Kitt sterben musste. Sie waren in jener Nacht bei den Leuten in
New Spirit
, die Drogen nahmen.«
»Ja, das war ich. Und wenn ich mich dadurch nicht hätte ablenken lassen, wäre St. Kitt vielleicht noch am Leben. Aber ich wollte unbedingt rauskriegen, wer von den Regierungsbeamten zu dieser speziellen kleinen Gruppe gehörte. St. Kitt war auch eingeladen, doch er lehnte kategorisch ab. Er stapfte angewidert und entrüstet in Richtung des Flusses davon. Das gab Bacchus' Killer die perfekte Gelegenheit, auf die er gewartet hatte – um Ernesto endgültig auszuschalten.«
»Aber warum?«
»St. Kitt war entschlossen, die bisherigen Machenschaften der El-Dorado-Gesellschaft aufzudecken, die jahrelang von diversen Unternehmen und Organisationen in Guyana Geld kassiert hatte. Guyminco, die Mine Ihres Bruders, war nur eine von vielen Firmen, die Bacchus Bestechungsgelder zahlten, um Regierungsvorschriften zu umgehen.«
Jetzt hatte Destra Madis volle
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