Der Gesang des Wasserfalls
die verdreckten Schuhe und Socken aus und rieb sich die Füße mit einem Lappen ab, den er unter dem Sitz hervorholte. Madison drückte weitere Samen aus der Lotoskapsel. »Wirklich erstaunlich. Diese Blüten sind so groß wie Suppentassen.«
»Warten Sie ab, bis sie getrocknet sind, und tun Sie dann mal 'n Kern probiern.« Er zog die Schuhe ohne die schlammigen Socken wieder an.
Die Bibliothek war in einem wunderschönen weißen Kolonialgebäude untergebracht. Sie gingen zum Empfangsschalter, wo eine junge Frau ihre Tasche entgegennahm und ihnen eine numerierte Garderobenmarke gab. »Tun Sie Ihr Geld mitnehmen«, flüsterte Lester.
Sie schritten eine breite, geschwungene Treppe zum oberen Stockwerk hinauf, wo die Bücherregale durch kleine Abzäunungen aus Maschendraht geschützt wurden. Eine der Bibliothekarinnen in einer tristen, schlammfarbenen Uniform kam auf sie zu. »Woran sind Sie interessiert, Politik, Tiere, Geschichte?«, fragte sie im Plauderton.
»Was haben Sie über Reisen in Guyana, zum Beispiel ins Landesinnere?«
Das Mädchen sah sie verständnislos an. »Wissen Sie, was die Bücher für Titel haben?«
»Nein.«
»Mann, wie soll ich wissen, was ich holen soll, wenn ich keinen Titel hab?« Ihr Kopf ruckte verärgert hin und her.
»Kann ich nicht einfach selber in den Regalen schauen?«, fragte Madison und trat durch eine kleine Öffnung in der Absperrung an die Regale. Sie musste einem Eimer ausweichen, einem von vielen, die in den Gängen zwischen den Büchern standen. Bei einem Blick nach oben entdeckte sie feuchte Flecken an der durchhängenden Decke.
Doch jetzt wurde das lethargische Mädchen plötzlich lebendig. »Hier dürfen Sie nicht rein.«
»Warum nicht?«
»Vorschrift. Ich hol die Bücher, das ist Vorschrift. Was wollen Sie haben?«
»Ich weiß es doch nicht! Ich will nur mal schauen und sehen, was interessant aussieht.«
»Keine Titel, keine Bücher. Das ist Vorschrift.«
Madison sah Lester verzweifelt an. Er zeigte auf ein Buch. »Da, das blaue da. Das isses. Geben Sie uns das.«
»Das blaue, da im Regal?«
»Ja, Mann. Das da, das blaue da oben.« Lester ahmte ihren Tonfall nach und deutete auf das Buch. Er zwinkerte Madison zu, als das Mädchen danach griff. Beim Durchblättern tat er ganz begeistert. »Ja, Mann, das isses. He, Sie machen auch Fotokopien, ja?«
Nachdem die Seiten sorgfältig markiert waren, verschwand das Mädchen nach hinten zum Fotokopieren. »Okay, gehn Sie.« Lester schob Madison zwischen die verstaubten, modrig riechenden Bücherreihen. »Sehn Sie, ob Sie was finden können.«
Es kam ihr verrückt vor, aber sie schaute rasch an den Regalen entlang und vertiefte sich bald in eine Reihe von Büchern über Guyana, die noch aus der Kolonialzeit und der Zeit vor der Unabhängigkeit stammten. Reisebücher gab es nur wenige, und die vorhandenen schienen alle schon älteren Datums zu sein. Offenbar hatte sich niemand in neuerer Zeit die Mühe gemacht, etwas über die Sehenswürdigkeiten und Reisemöglichkeiten in Guyana zu schreiben. Sie bemerkte, dass die neueren Bücher sich alle mit Politik beschäftigten und lobend von den politischen Leistungen des ehemaligen sozialistischen Premierministers Forbes Burnham berichteten, dessen Regierung diese Bücher veröffentlicht hatte.
Madison wollte sich gerade abwenden, als ihr ein Titel ins Auge fiel.
On the Diamond Trail in British Guiana
von Gwen Richardson. Es war ein altes Buch, und Madi blies erst den Staub weg, bevor sie das Impressum aufschlug. Das Buch war 1925 bei Methuen in London erschienen. Sie blätterte zu der stockfleckigen Titelseite zurück, auf der ein grobkörniges Schwarzweißfoto einer jungen Frau abgedruckt war, das sie gleichzeitig amüsierte und, wie sie sofort feststellen musste, mit Bewunderung erfüllte. Es war ganz eindeutig eine Studioaufnahme im Stil der damaligen Zeit, aber es hatte etwas an sich, das Madison unglaublich faszinierte.
Die junge Frau sah recht gut aus, aber es war ihre Aufmachung, die das Foto zu etwas Besonderem machte – ein langer, tweedartiger, aber modisch geschnittener schwarzer Rock, hohe Schnürstiefel, eine mit Taschen versehene Bluse, ein Tropenhelm, der ihr etwas verwegen auf dem Kopf saß, ein Tuch um den Hals und ein 45er Colt, den sie selbstbewusst in der Hand hielt.
»Nicht übel, Gwen!«, rief Madison leise aus, und Lester trat zu ihr, um über ihre Schulter zu schauen.
»O Mann, das is aber 'ne Lady«, sagte er in seinem singenden Tonfall,
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