Der Gesang des Wasserfalls
Lester.
»Nein.«
Er nahm eine blasse Hängematte mit langen Bändern herab. »Hier, die is gut für Sie. So tut man sie festmachen.« Er zeigte ihr, wie man die starken Doppelbänder um einen Pfahl knotete. Dann zog er an, und der Knoten saß fest an seinem Platz. »Da schlafen Sie tief drin, die Seiten bedecken Sie fast. Tun die bösen Jungs abhalten.«
»Was?«
»Insekten. Noch 'n Moskitonetz und 'ne wasserdichte Plane, und Sie sind fertig fürn Dschungel.«
Madison schoss das Bild von Gwen mit ihrem Revolver und der Buschkleidung durch den Kopf. »Okay, ich nehme sie.«
Sie verließen den Laden und gingen über das Gelände. Zwei Jungen mit Schultaschen in der Hand schlenderten an ihnen vorbei und redeten in einer Sprache, die Madison noch nie gehört hatte. Sie lächelten sie schüchtern an und verschwanden im Haus.
»Können wir uns ein bisschen umsehen?«
»Gibt nix zu sehn. Schlafsäle, Speisesaal, 'n paar Büros. Is alles ganz einfach.«
Madison spürte, dass sich hinter der schlichten Fassade des Gebäudes mehr tat, als man sie sehen lassen wollte. Und was immer es sein mochte, sie hatte den Verdacht, dass Lester daran beteiligt war. Konnte das hier das Hauptquartier einer neuen politischen Bewegung sein?
Als wollte er ihre Gedanken bestätigen, kam ein Mann durch das Tor und rief Lester einen Gruß zu. Lester begrüßte ihn, und sie schüttelten sich die Hand. Der Mann war ein beeindruckend aussehender Indio mit kupfriger, olivbrauner Haut, einem breiten Gesicht mit großen, dunklen Augen und einer fein geformten Nase. Sein glattes Haar war von roten Bändern durchflochten und fiel in einem langen, eng umwickelten Zopf über den Rücken herab. Er trug ein grobes Baumwollhemd, in das ein geometrisches Muster eingewoben war.
Der kurze Austausch der beiden Männer war für Madison unverständlich, bis Lester eine Hand in ihre Richtung ausstreckte. »Madison Wright. Is grade in Guyana angekommen. Will im Lannesinnern nach Diamanten suchen.«
Madison lachte verlegen. »Tja, das wäre schön. Ich weiß nur nicht genau, wie ich das anstellen soll … Eigentlich bin ich hier, um meinen Bruder zu besuchen.«
»Ich bin Xavier. Xavier Rodrigues.« Der Indio schenkte ihr ein breites Lächeln, das perfekte, ebenmäßige weiße Zähne aufblitzen ließ. »Sie sind keine Engländerin.«
»Australierin.«
»Aha. Noch so ein Außenposten des ehemaligen Britischen Empire. Ich hoffe, Sie kommen wirklich ins Landesinnere, Miss Wright. Wir überreden die Besucher unseres Landes gern dazu, zu uns zu kommen und sich selbst ein Bild zu machen.«
Hinter dem lächelnden Xavier bemerkte Madi einen Mann in Anzug und Krawatte, der ins Hospiz eilte. Einen Moment lang meinte sie, in ihm Antonio Destra zu erkennen, den Mann, den sie am Flughafen kennen gelernt hatte. Dann kamen zwei Mädchen mit halbfertigen Körben aus dem Haus, setzten sich unter einen Baum und unterhielten sich leise, während sie lange Stränge getrockneter Gräser miteinander zu verweben begannen. Die beiden Männer redeten über ein Treffen im Hospiz, und Madison kramte in ihrer Tasche nach dem Fotoapparat. Sie legte die Bücher und den kleinen Frosch auf den Boden neben ihre Tasche, nahm die Kamera heraus und warf Lester einen fragenden Blick zu.
»Klar, klar, is okay. Die machen Sachen fürn Laden.«
Madison hockte sich vor die kichernden Mädchen und machte ein Foto. Als sie sich umwandte, hielt Xavier den kleinen Holzfrosch in der Hand.
»Wo haben Sie den her?«
»Den habe ich bei einem Künstlerfreund von Lester gekauft«, sagte sie. Er gab ihr die Schnitzerei zurück und sah sie eindringlich an. »Eine gute Wahl. Der Goldfrosch wird immer auf Sie aufpassen.« Flüchtig spürte Madison, wie etwas in ihr erzitterte, eine Ahnung, ein Vorgefühl, dass sie diesen faszinierenden Mann nicht zum letzten Mal gesehen hatte.
Matthews Wagen stand in der Auffahrt, als sie ankamen. Madi bezahlte Lester und bekam von ihm einen Zettel, auf den er ihr seine private Telefonnummer geschrieben hatte. »Sie tun mich anrufen, wenn Sie wo hinwolln, okay?«
»Das werde ich. Vielen, vielen Dank, Lester. Es war ein wunderbarer Vormittag.«
»Schönen Tag noch.« Winkend fuhr er weg, während Singh ihr das Tor aufhielt.
»Mr. Matt is zurück. Hat sich Sorgen gemacht, wo Sie sind, Miss.«
Madison rannte zur Tür und war halb die Treppe hinauf, als ihr Matthew entgegengelaufen kam. Auf dem Treppenabsatz umarmten sie sich überschwänglich. »He, Madi. Du
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