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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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sechsundzwanzig Buchstaben im Griff zu behalten.
    Als ich einmal allein zu Hause war, nahm ich einen roten Farbstift und ging in Mutters Schlafzimmer. Die eine Wand hatte zwei große Fenster mit blauen Vorhängen und einem schönen Ausblick auf die Stadt. Vor der anderen Wand stand ein weißer Kleiderschrank, die beiden übrigen Wände waren weiß tapeziert. Das war langweilig. Ich glaube, Mutter tat mir leid. Ich hatte immerhin ein Bild von Donald Duck an der Wand.
    Ich hatte mir ein witziges Märchen ausgedacht, viele Tage lang, aber ich hatte Mutter nichts davon verraten. Es sollte eine Überraschung sein. Ich nahm den roten Stift und begann, auf die weiße Tapete zu schreiben. Anfangs mußte ich dafür auf einem Stuhl stehen, denn ich brauchte die ganze Wand. Ich brauchte beide Wände. Stunden später war ich fertig. Ich legte mich auf Mutters Bett und las die ganze lange Geschichte, die ich an die Wand geschrieben hatte. Ich war stolz darauf, jetzt konnte Mutter jeden Abend vor dem Einschlafen mein schönes Märchen lesen. Ich wußte, daß es ihr gefallen würde, es war eine schöne Geschichte, vielleicht würde sie ihr besonders gut gefallen, weil ich sie mir nur für sie ausgedacht hatte. Ein Märchen für mich selber wäre ganz anders ausgefallen, eins für Vater wieder anders. Aber Vater wohnte nicht mehr bei uns, war ausgezogen, als ich drei Jahre alt gewesen war.
    Ich lag lange auf dem Bett und wartete auf Mutter. Ich freute mich mehr als je zuvor auf ihre Rückkehr. Ich hatte oft eine kleine Überraschung für sie bereit, aber das hier war etwas ganz anderes, es war eine große Überraschung.
    Ich saß im Flugzeug nach Neapel und erinnerte mich an das Geräusch, mit dem Mutter an diesem Nachmittag die Wohnungstür auf schloß. Hier, rief ich. Hier bin ich.
    Sie wurde wütend, unbeschreiblich wütend. Sie tobte, noch ehe sie gelesen hatte, was überhaupt an der Wand stand. Sie riß mich aus dem Bett und warf mich zu Boden, sie schlug mir hart auf beide Wangen, dann zerrte sie mich aus dem Zimmer und schloß mich im Badezimmer ein. Ich weinte nicht. Ich sagte kein Wort. Ich hörte, wie sie Vater anrief und auch auf ihn wütend wurde, sie sagte, er müsse kommen und ihr Zimmer neu tapezieren. Das tat er dann einige Tage später. Die Wohnung roch danach noch viele Wochen nach Leim. Ich schämte mich so.
    Ich blieb lange im Badezimmer eingesperrt. Sie aß zu Abend, trank Kaffee und hörte sich den ersten und den zweiten Akt von La Bohême an, dann schickte sie mich ins Bett. Ich gehorchte, aber ich sagte kein Wort. Ich sprach tagelang nicht mit Mutter und gehorchte nur stumm, wenn sie etwas zu mir sagte. Am Ende mußte sie mich anflehen, damit ich wieder mit ihr sprach. Ich sagte, ich würde nie wieder die Wände beschreiben, ich würde auch nicht auf Papier schreiben, nicht einmal auf Klopapier, das beteuerte ich. Ich war standhaft, und in gewisser Hinsicht habe ich das Versprechen ja gehalten. Nach dieser Episode zeigte ich Mutter nie wieder, was ich geschrieben hatte, nicht einen Buchstaben davon. Sie durfte auch nie einen Blick auf meine Hausaufgaben werfen. Darüber sprach sie ab und zu mit den Lehrern, aber die standen auf meiner Seite. Ich machte meine Arbeit so gut, daß Mutter meine Hefte nicht durchzusehen brauchte, meinten sie. Genauso war es schließlich auch.
    Ich will nicht behaupten, diese Episode sei schuld daran gewesen, daß aus mir kein Schriftsteller wurde, sie sorgte allerdings dafür, daß ich aufhörte zu zeichnen. Es lohnte sich nicht, wenn ich meine Zeichnungen niemandem zeigen konnte. Ich glaube mich auch zu erinnern, wie ich mir später einmal überlegte, daß ich niemals kontrollieren könnte, ob Mutter las, was ich schrieb, wenn ich ein Buch veröffentlichte, von dem viele tausend Exemplare gedruckt wurden. Doch auf diese Weise wollte ich mich ohnehin nicht präsentieren. Ich hatte mich an Mutters Schlafzimmerwand präsentiert, das war die Schrift an der Wand. Niemals sollte Mutter in eine Buchhandlung spazieren und ein Buch mit meinem Namen auf dem Einband kaufen können.
    Ich verzichtete auf das Frühstück, das die Stewardeß mir servieren wollte, und versuchte zu schlafen; doch nachdem ich für einige Minuten eingenickt war, fuhr ich jählings wieder hoch. Ich warf einen Blick auf die umbrische Ebene unter mir. Ich war achtundvierzig Jahre alt, mein halbes Leben lag hinter mir, wenn nicht fünfundsiebzig Prozent, vielleicht sogar mehr, neunundneunzig Prozent.
    Das Leben war so

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