Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
stellt das Glas danach umgedreht auf den Tisch zurück.
»Tobias!«, rügt Nathalie.
»Papa!«, ruft auch Johannes und runzelt die Stirn. »Du sagst doch immer, nicht vor Gästen!«
»Was?« Mattis’ Vater schaut verwirrt von einem zum anderen, dann bleibt sein Blick an dem umgedrehten Glas hängen. »Oh. Da war ich wohl in Gedanken. Tut mir leid.«
Er wirft mir ein betretenes Lächeln zu und stellt das Glas richtig herum neben den Teller.
»Kein Problem«, versichere ich, während ich mich im Stillen frage, was ich da verpasst habe. Ich meine, ich kenne Tobias noch nicht gut, habe ihn bisher nur zwischen Tür und Angel gesehen, aber er erschien mir immer sehr nett und souverän. Kein Typ jedenfalls, der mit dem Kopf so sehr in den Wolken steckt, dass er es nicht merkt, wenn er leere Gläser umdreht.
»Ich glaube, wir sind Sophie eine Erklärung schuldig, was?«, wirft Nathalie munter in die Runde.
»Och, lass mal, Mama«, murmelt Mattis.
»Ist doch nichts dabei!«, ruft Nathalie. »Also, Sophie, das mit dem Gläserumdrehen hat damit zu tun, dass Tobias hochsensibel ist. Mattis übrigens auch.«
Ich schaue sie verständnislos an. Hochsensibel? Nie gehört.
»Das bedeutet, man nimmt Reize und Informationen aus der Umwelt stärker wahr als andere Menschen«, fährt Nathalie fort, so flüssig, als habe sie das alles schon hundert Mal erzählt. »Du kannst dir das in etwa so vorstellen, als hätten Hochsensible einfach einen schwächeren Filter für Sinnesreize. Sie werden also richtiggehend überflutet von Informationen, die das Gehirn eines Nicht-Hochsensiblen automatisch aussortiert.«
»Klingt anstrengend.« Ich frage mich, was das alles mit dem umgedrehten Weinglas zu tun hat.
Nathalie zuckt mit den Schultern. »Einerseits ist es anstrengend, ja. Andererseits können Hochsensible das, was sie wahrnehmen, sehr gut miteinander verknüpfen, der schwache Filter hat also nicht nur Nachteile. Im Gegenteil: Viele Hochsensible sind auf diese Weise extrem einfühlsam. Sie spüren die wahren Stimmungen ihrer Mitmenschen, haben intuitive Erkenntnisse, die andere sich gar nicht erklären können. Hinzu kommt das besonders starke Empfinden nicht nur negativer, sondern auch positiver Gefühle wie Freude, Glück oder Liebe und Lust, und außerdem –«
»Jetzt hör doch auf«, unterbricht Mattis seine Mutter genervt. »Du bist nicht hochsensibel, also tu nicht immer so, als wüsstest du ganz genau Bescheid.«
»Ich bin vielleicht nicht hochsensibel, aber ich habe sehr viel darüber gelesen, um dich und deinen Vater besser zu verstehen«, sagt Nathalie ungerührt und schiebt sich eine Gabel Ratatouille in den Mund. Kauend fährt sie fort: »Ich halte mir deshalb durchaus zugute, ein gewisses Fachwissen zu besitzen.«
Mattis verdreht die Augen. »Dass du Papa und mich ununterbrochen analysieren willst, heißt nicht, dass du alle anderen damit langweilen darfst.«
»Ich finde das nicht langweilig«, entgegne ich schnell. Schließlich geht es hier um Mattis, und alles, was mit ihm zu tun hat, interessiert mich brennend. Unter anderem das mit dem intensiven Liebes- und Lustempfinden.
»Siehst du«, sagt Nathalie triumphierend zu Mattis, und der wirft mir einen verstimmten Blick zu.
Oha.
»Natürlich kann man nicht alle Hochsensiblen über einen Kamm scheren«, fährt Nathalie mit missionarischem Eifer fort. »Die Veranlagung äußert sich bei jedem etwas anders. Tobias zum Beispiel kann starke Gerüche nicht ertragen, selbst wenn sie von Dingen kommen, die er mag.« Sie deutet auf den Rotwein. »Deshalb dreht mein Mann Gläser, in denen stark riechende Getränke waren, gerne um. Mattis hingegen kommt mit Gerüchen ganz gut klar, aber nicht mit Stimulanzien wie Alkohol oder Energy-Drinks. Kaffee wiederum geht. Lärm ist schon wieder schwieriger, und auch Situationen mit vielen fremden Menschen sind anstrengend für ihn. Das hast du ja bestimmt schon gemerkt, Sophie.«
Ich nicke. So ähnlich hatte Mattis es mir auch erklärt, als ich zum ersten Mal sein weißes, spartanisch eingerichtetes Zimmer gesehen habe. Nur dass er das Ganze nicht »hochsensibel« genannt hat.
»Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum wir aufs Land gezogen sind.« Nathalie macht eine weit ausholende Bewegung mit ihrer Gabel und verliert dabei ein Stück Zucchini. »Mattis und Tobias tut das Leben hier draußen einfach besser! Sie haben mehr Ruhe, und es fällt ihnen leichter, wieder runterzukommen, wenn sie überreizt sind.«
»Jetzt
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