Der Gipfel
und nicht allzu gutgelaunt machte ich mich frühmorgens um vier von Lager II auf den Weg. Um diese Zeit hilft einem auch der stärkste Kaffee nicht. Der Sternenhimmel verhieß einen guten Tag, und als ich mit knirschenden Schritten über festgepackten Schnee ging, sah ich vor mir in etwa 150 bis 250 Metern Entfernung die Stirnlampen der Sherpas von Halls Expedition, und hinter mir, ebenso weit entfernt, die auf- und abhüpfenden Lichter der Sherpas der Taiwanesen. Wir stiegen in gleichmäßigem Tempo auf und erreichten Lager III nach dreieinhalb Stunden um sieben Uhr dreißig, als die ersten Sonnenstrahlen auf die beiden Zelte fielen, die von den Sherpas am Tag zuvor aufgestellt worden waren.
Lager III, am Ende der Fixseile errichtet, wo Boukreev am Vortag seine Last deponiert hatte, lag auf einer kleinen Stufe in der abfallenden Lhotse-Flanke. Der Neigung des Hanges entsprechend – in etwa der Schräge einer Leiter zu einem Fenster im dritten Stock vergleichbar – waren Standflächen für zwei Zelte in das Eis gehauen worden. Die Basis für das dritte Zelt mußte dem schrägen Eis erst abgerungen werden. Boukreev und die Sherpas machten sich mit ihren Pickeln an die Arbeit. Mit kurzen, lockeren Schlägen aus dem Handgelenk hackten sie das Eis in gleichmäßigem Rhythmus heraus.
Ich ließ meine Sachen im Zelt und stieg über Lager III zu der Stelle auf, wo Ang Dorje und andere Sherpas von Rob Halls Expedition schon die Fixseile anbrachten. Nach einer Seillänge wechselte ich mit Ang Dorje, der vor mir gegangen war, die Position und übernahm für den Rest des Tages die Führung, während Ang Dorje mich sicherte und die anderen Sherpas die Seilrollen nachreichten. Fünf Stunden machten wir gleichmäßig weiter, bis wir 7550 Meter erreicht hatten und knapp unterhalb des Gelben Bandes 23 standen.
Nach der Schwerarbeit des Tages wollte Boukreev zum Lager III absteigen und dort übernachten, um seine Akklimatisation voranzutreiben, während Ang Dorje und die anderen Sherpas zum Lager II zurückkehrten. Ein Blick hinunter auf Lager II zeigte Boukreev, daß dort anstatt der erwarteten Aktivität völlige Ruhe herrschte.
Vom Schlechtwetter festgenagelt, hatte die Mountain-Madness-Gruppe den Tag in den Zelten zugebracht und sich ausgeruht. Ihre Bericht an NBC mußte Sandy Pittman mit »menschlichen Aspekten« anreichern. Hauptthema war die Musik, die die Mountain-Madness-Leute auf der Boom-Box im Basislager oder auf ihrem eigenen CD- oder Kassettengerät gerne hörten. Neal Beidleman bevorzugte »Lollipop, Lollipop« von den Chipmunks, während Lene Gammelgaard von Nick Caves »Murder Ballads« angetan war. Wie bei der Musik waren sie auch am Berg sehr verschieden.
Beidleman, der leise, bedächtig und sehr engagiert war, stellte für Lene Gammelgaards stürmisches Naturell so etwas wie einen Blitzableiter dar. Unbeugsam und starrsinnig in ihrem Entschluß, den Berg zu ihren eigenen Bedingungen zu bezwingen, und ausgestattet mit einer Portion Abenteuerlust sah sie in Beidlemans geringer Höhenerfahrung den Grund für sein Bestreben, sich um jeden Preis beweisen zu wollen, um als Bergführer »verehrt« und »respektiert« zu werden. »Das kam für mich gar nicht in Frage. ›Ich brauche keinen Führer, und dich schon gar nicht‹. Als er nicht kapierte und es wieder probierte und sich aufs neue eine Abfuhr holte, half nur ›Nimm endlich Vernunft an, komm mir nicht in die Nähe oder es kracht‹. Ich glaube, er hatte es mit mir sehr schwer.«
Wie Boukreev und Fischer heimste auch Beidleman von einigen Kunden Kritik ein, verhielt sich aber bei Meinungsverschiedenheiten immer professionell und fiel nur selten aus der Rolle, indem er sich auf einen öffentlichen Auftritt einließ.
Abends hatte ich unser Zelt in Lager III für mich und genoß die Einsamkeit und Stille der Lhotse-Flanke weit ab von der Betriebsam keit des Basislagers. Auf meinem Kocher bereitete ich Tee und etwas zu essen. Nach dem schweren Arbeitstag verspürte ich nichts von der Appetitlosigkeit, an der man in großer Höhe oft leidet, und machte mich hungrig über mein Abendessen her. Als später die Temperatur sank und ich die Kälte spürte, meldete ich mich über Funk im Basislager. Die Sherpas sollten morgen noch zusätzlich Seile heraufbringen. Dann zog ich den Reißverschluß meines Schlaf sacks zu und schlief sofort ein.
Boukreevs erste Nacht über 7000 Meter war unruhiger als in Lager II. Er erwachte abgeschlagen und matt, was während
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