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Der Gitano. Abenteuererzählungen

Der Gitano. Abenteuererzählungen

Titel: Der Gitano. Abenteuererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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gewahrte ich eine Reihe von Zelten, in deren Nähe Schafe und Rinder weideten. Wir hatten ein arabisches Wanderdorf vor uns und konnten sicher sein, eine gastfreundliche Aufnahme zu finden.
    In kurzer Zeit hatten wir den trüben See erreicht, in dessen Nähe es lag und hielten unsre Pferde gleich beim ersten Zelte an. Es wäre eine ganz unverzeihliche Beleidigung für den Besitzer desselben gewesen, wenn wir in einem der folgenden Aufnahme gesucht hätten. Der Bewohner der Wüste ist ein geborener Dieb und Räuber, aber das Gastrecht hält er so hoch, daß er es nie verletzt.
    Das alte, vielfach zerfetzte Tuch, welches den Eingang bedeckte, wurde bei Seite geschoben, und es trat ein alter Mann hervor, der uns mit neugierigen und verwunderten Blicken musterte. Sein sonngebräuntes Gesicht war voller Falten und seine ausgedorrte Gestalt tief gebeugt; er mochte wohl an die neunzig Jahre zählen.
    »
Sallam aaleïkum!
« grüßte ich, die Hand zur Brust erhebend. »Hast Du ein Wenig Raum für uns, wo wir das Haupt zur Ruhe legen können?«
    »
Marhaba ia Sihdi,
Du sollst willkommen sein, o Herr!« antwortete er einfach, trat zu meinem Pferde heran und faßte es beim Zügel, damit ich absteigen möge.
    Ich that es. Es ließ sich ringsum keine Menschenseele erblicken, und nur einige wißbegierige Frauenköpfe blickten durch die leise zurückgezogenen Thürvorhänge.
    »Wo sind die Männer, denen diese Zelte gehören?« frug ich.
    »Das will ich Dir sagen,« antwortete er und trat darauf mit plötzlich sehr ernst gewordener, geheimnißvoller Miene an mich heran. Er hielt die zwei hohl ausgebogenen Hände an mein Ohr, legte den Mund an sie und flüsterte so leise, daß ich es kaum verstehen konnte:
    »Kennst Du Assad, den Aufruhrerregenden? Kennst Du Assad-Bei, den Heerdenwürger?«
    Ich nickte bejahend mit dem Kopfe.
    »Er ist unserer Heerde gefolgt schon lange Zeit, raubt uns die besten Thiere und hat sich erst in der vergangenen Nacht wieder ein Rind geholt,
aaïb aaleihu,
Schande über ihn!«
    Ich konnte den leisen Flüsterton begreifen. Der Araber hat einen außerordentlichen Respect vor dem Löwen; so lange das gewaltige Thier noch lebt, nennt er es mit den hochtrabendsten Namen, um es ja nicht zu beleidigen und so zur Rache herauszufordern; ist es aber getödtet worden, so bewirft er es mit den demüthigendsten Schimpfworten, deren die Sprache seines Landes eine überaus reiche Zahl besitzt. Er läßt sich lange Zeit die besten Stücke seiner Heerde rauben, ehe er sich zu einem Angriffe entschließen kann, denn dieser kostet stets wenigstens ein, meistens aber mehrere Menschenleben.
    Der sonst so tapfere Sohn der Wüste wagt es nämlich nie, wie es der kühne europäische Jäger zu thun stets vorzieht, den Löwen allein anzugreifen; es treten die sämmtlichen waffenfähigen Männer des Dorfes zusammen, suchen das Lager des Thierkönigs auf, locken ihn durch lärmendes Brüllen, Rufen, Pfeifen und Schießen aus demselben hervor, und jagen ihm, sobald er erscheint, aus ihren langen, unsicher treffenden Flinten so viel Kugeln wie möglich auf den Leib. Der Löwe stürzt nie sofort. Selbst wenn er zum Tode verwundet ist, besitzt er noch so viel Kraft, sich auf Einen oder auch Mehrere zu werfen und den an ihm verübten Mord blutig zu rächen.
    Die Furcht, welche man vor ihm hegt, geht sogar so weit, daß man bei dem Entschlusse eines Angriffes nur leise spricht; man meint, er könne es hören. Darum theilte mir der Alte die Nachricht auch nur heimlich mit und warf dabei ganz besorgte Blicke nach der Gegend, in welcher das Abenteuer stattfinden sollte. Assad-Bei, der Löwe, hätte ja seine Worte vernehmen können!
    Bei seiner Mittheilung war alle Müdigkeit in mir verschwunden. Im »wilden Westen« von Amerika hatte ich so mancher wilden Bestie gegenüber gestanden und dabei dem Tode in das Auge geschaut; jetzt war ich nach Nordafrika gekommen, um den Löwen zu sehen; aber dieser Wunsch war mir trotz aller Mühe bisher unerfüllt geblieben. Heut nun war ganz ohne alle Erwartung seine Erfüllung möglich; sollte ich furchtsam zaudern?
    »Nimm unsre Thiere auf,« bat ich. »Ich werde gehen, um den ›Sihdi el salssali, den Herrn des Erdbebens‹ aufzusuchen!«
    Ich wußte, daß der Löwe wegen der Macht seiner Stimme so genannt wird.
    »Sprich leise!« bat der Alte ängstlich. »Wenn er es hört, so bist Du verloren. Er kommt herbei und reißt Dich in Stücke.«
    »Allah akbar, Gott ist groß!« lamentirte Mahmud, der

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