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Der Gitano. Abenteuererzählungen

Der Gitano. Abenteuererzählungen

Titel: Der Gitano. Abenteuererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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keine Ahnung hatte, dessen Größe ich jetzt noch gar nicht ermessen kann, und dessen Reichthum sich mir erst in der Zukunft zu zeigen vermag. Nur das Eine fühle ich – nein, das weiß ich mit der heiligsten und unumstößlichsten Sicherheit: daß die Stunden ihres Aufenthaltes in diesem Hause gezählt sind.
    Doch hier gilt es nicht, zu träumen und zu säumen; es will gehandelt sein! Das Gitter, welches die Stelle des Fensters vertritt, besteht aus zwei senkrecht an einander geschobenen Theilen, welche aus einander gezogen oder geschoben werden können, falls es einmal nothwendig ist, die Oeffnung frei zu geben. Bei näherer Betrachtung bemerke ich einen schmalen Holzriegel, welcher die beiden Hälften zusammenhält; rasch ist er, ohne die Stellung des Gitters zu verändern, beseitigt, und das Glück mag alles Uebrige besorgen! –
    »Tritt herein, Effendi!« tönte die Stimme Abrahims.
    Ich trat wieder ein. In weite Gewänder gehüllt, stand sie tief verschleiert an der hinteren Wand des Zimmers. Nichts war von ihr zu sehen, als die kleinen, in Sammetpantoffeln steckenden Füße.
    »Einige Schritte gehen!« wandte ich mich an den Egypter.
    Bei dem Klange meiner Stimme fuhr der Kopf mit einem raschen, jähen Rucke empor, und es schien mir, als ob die dunklen Augen mit einem überraschten und ängstlich forschenden Ausdrucke durch die Schleierlücke hindurch auf mir ruhten. Ich bedurfte meiner ganzen Kaltblütigkeit, um ruhig zu scheinen.
    Auf das Geheiß ihres Gebieters vollführte sie einige Bewegungen, deren Unsicherheit ich aber mehr auf Rechnung der Befangenheit, als der Schwäche schrieb; dann begann ich meine Fragen, deren Enthaltsamkeit Abrahim vollständig befriedigte.
    »Endlich ließ ich mir die Hand reichen, und fast wäre ich trotz der ernsten Situation in eine laute Heiterkeit ausgebrochen, als ich sah, daß die Hand so vollständig in ein dickes Tuch gebunden war, daß es unmöglich war, auch nur die Lage oder Form eines Fingers durch dasselbe zu unterscheiden. Der Arm war in der Weise ebenso verhüllt, daß am Handgelenke grad’ genug freier Raum blieb, um meinen kleinen Finger zu placiren. Und bei so eingeschnürtem Arme und so zusammengepreßter Hand sollte ich aus dem Pulse meine richtigen Schlüsse ziehen!«
    Ich gab mir doch den Schein dazu, und obgleich mein Gesicht die strengste Unempfindlichkeit bewahrte, war es mir bei der Berührung der kleinen, weichen, weißen Stelle doch, als fließe ein unbeschreibliches Etwas auf mich über und gäbe mir Verständniß für die geheimste Regung des hinter den dichten Gewändern klopfenden Herzens. Es war, als sei ich jetzt nicht mehr ich, sondern Eins mit ihr, als fühlte ich jeden Tropfen ihres Blutes rollen und jeden Gedanken erwachen und jetzt – ja, jetzt wollte sie mir etwas sagen – ich sah Nichts, kein Zeichen, nein, aber ich wußte es und neigte mein Ohr tiefer, wie um den Puls ihres Handgelenkes nicht blos zu fühlen, sondern auch zu hören, und – wirklich, da wehte es leise, leise, fast unhörbar durch den Schleier:
    »Rette mich!«
    Das war Alles so schnell und wie unter dem Einflusse eines unwiderstehlichen sympathetischen Gesetzes geschehen, daß Abrahim Nichts gemerkt hatte, trotzdem er dicht an meiner Seite stand. Ich mußte ihr eine Antwort geben, und noch ehe der Tyrann sie fortschicken, oder sich selbst mit mir entfernen konnte, gab ich den kurzen Bescheid:
    »Allah kerihm, Gott ist gnädig; bald wird die Krankheit dieses Haus verlassen. Mein Trank muß Schlaf und tiefe Ruhe bringen, und dann wird neue Kraft einziehen in die kranke Seele. Leïlkum saaïde, glückliche Nacht!«
    Ich konnte im Gehen diesen Gruß jetzt aussprechen; während der langen Verhandlungen mit Abrahim war der Nachmittag vergangen, und jetzt dunkelte der Abend in seiner südlich schnellen Weise schon herein. Omar Arha wurde gerufen, da ich ein Opiat geben mußte, und dann brachen wir auf.
    Meine Versicherung, daß ich die Patientin in kurzer Zeit vollständig herstellen werde, hatte Abrahim-Arha bewogen, das Vorhergegangene einstweilen zu vergessen, und so bot er mir für die Nacht seine Gastfreundschaft an. Ich schlug diese ebenso aus wie jedes Geschenk, zu welchem er sich geneigt zeigte; doch konnte und wollte ich auch gar nicht verhindern, daß mein treuer Omar mit einem Bakschisch beglückt wurde, wie er es wohl seit langer Zeit nicht bekommen hatte.
    Als wir das Boot bestiegen, welches uns unter der Leitung unseres vorigen Führers wieder zurückbringen

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