Der Gladiator
Klümpchen zwischen Daumen und Zeigefinger. »Das ist die Leber«, erklärte er dem angewidert dreinblickenden Jungen. »Sie ist prall und hat zwei Kerben an der Unterseite. Das bedeutet: Du hast ein prall gefülltes Leben zu erwarten, reich an Erlebnissen und wohl versehen mit irdischen Gütern. Die beiden Kerben weisen auf zwei Frauen hin, die deinen Lebensweg bestimmen.«
»Ein gutes Orakel, fürwahr«, strahlte Vitellius.
»Gewiß«, antwortete der Haruspex, »so gute Kunde konnte ich lange nicht mehr geben.«
Vitellius dankte dem Wahrsager, dann schlug er die Richtung zum Forum Boarium ein. Das Forum Boarium, am linken Tiberufer gelegen, Marktplatz für landwirtschaftliche Produkte und Vieh, war an Feiertagen Treffpunkt der unteren Schichten, der Plebs und der Sklaven. Selten, daß sich ein Bankier, ein Rechtsanwalt oder ein Senator hierher verirrte. Und anders als bei den ausgelassenen Saturnalien, bei denen an sieben Tagen und Nächten alle Standesunterschiede zwischen Patriziern, Plebejern und Sklaven aufgehoben waren, feierte man die Floralien, das Fest der Blumen und Quellen, zwar ausschweifend und ekstatisch, aber streng getrennt nach Stand und Vermögen. Solche ›Feriae‹ gab es über hundert im Jahr. An den Floralien fanden überall Trinkgelage statt, die meist in orgiastischen Massenbeischlafszenen endeten, an denen niemand Anstoß nahm.
Vitellius schlenderte durch das Velabrum, ein Geschäftsviertel, das an gewöhnlichen Wochentagen dem Handel von Fleisch, Fisch, Backwaren, Wein und Öl diente und gelangte schließlich nahe der Stelle, an der die Cloaca maxima in den Tiber mündet, zum Forum Boarium. Der Rindermarkt mit seinen weiträumigen Anlagen quoll über von Menschen, die sich schon von ihrer grobschlächtigen Kleidung her als weniger begütert auswiesen. Auf der Suche nach dem Standbild der Pudicitia stieß Vitellius auf ein repräsentatives Gebäude, das sich nach Befragen der Umstehenden als das Amt für die Getreideversorgung der Stadt erwies, angebaut an einen Tempel der Ceres, der Schutzgöttin des Getreides. Das Standbild der Pudicitia stehe hundert Schritte weiter.
Vitellius sah das Mädchen schon von weitem. Jetzt, im Licht der goldglühenden Nachmittagssonne, erschien sie ihm noch schöner, noch liebenswerter als in dem dunklen Zimmer des alten Krämers. »Sei gegrüßt, Rebecca«, sagte Vitellius. »Ave«, sagte das Mädchen schüchtern. Und der Bononier meinte: »Nenn mich Vitellius. Ich bin dein Freund.«
Erst jetzt, als er vor ihr stand, bemerkte Vitellius, wie klein und zerbrechlich dieses Kind war. Daß es Sklavenarbeit verrichten mußte, konnte man kaum glauben. »Oh, wie traurig ist der Anlaß unseres Zusammentreffens«, sagte Vitellius. Rebecca starrte vor sich hin auf das Pflaster. Sie trug eine rauhe braune Tunika, die kaum die Oberschenkel bedeckte, ihre zierlichen Füße steckten in leichten Ledersandalen, deren dünne Riemen um die Waden geschnürt waren. »Du mußt es meinem Herrn nicht übelnehmen, daß er so abweisend war«, begann Rebecca schüchtern. »Er ist kein schlechter Herr. Er hat ein gutes Herz, auch wenn es bisweilen aus Stein zu sein scheint.«
»Mußte er deinen Vater den Gladiatoren verkaufen. Er ging gewiß nicht freiwillig.«
»Er tat es um meinetwillen. Mein Herr versprach mir dafür in seinem Testament die Freiheit. Stirbt er, so erhalte ich den Status einer Freigelassenen. Ich kann eine Ehe eingehen, und meine Kinder werden frei sein.«
»All das ist teuer genug erkauft«, meinte Vitellius.
»Wer konnte ahnen, daß er als Gladiator scheitern würde. Er war stärker als jeder andere in unserer Regio.«
»Aber er war über vierzig Jahre alt, nahe dem Alter, in dem man nicht einmal mehr als Soldat eingezogen wird.«
Rebecca schwieg. Dann sagte sie: »Er hat es für mich getan. Er hat meine Freiheit mit seinem Leben bezahlt.«
»Freiheit«, wiederholte Vitellius, »was bedeutet sie schon, wenn du arm bist. Sieh mich an. Ich bin ein freigeborener römischer Bürger. Ich darf die Toga tragen, was einem Sklaven verwehrt ist, nur habe ich keine Toga, weil ich mir keine leisten kann. Fünfzehn Sesterze waren mein Verdienst für einen Monat Arbeit. Dafür mußte ich meinen Lebensunterhalt bestreiten. Ein Sklave braucht sich darum nicht zu kümmern; denn der Herr ist verpflichtet, für seinen Sklaven aufzukommen.«
»Aber du kannst über dich selbst verfügen, du konntest deine Heimatstadt verlassen und nach Rom gehen, dir eine neue Existenz
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