Der Gladiator
in der ersten Reihe ihre Plätze an der gegenüberliegenden Seite. Da sackte ein weiteres Stück Erdreich ab, groß wie ein Haus, und die hölzerne Ehrentribüne begann zu knarren und ächzen. Die Zuschauer erstarrten.
»Flieht!« Von irgendwoher schallte zweimal der Ruf: »Flieht!« Das war das Signal für eine beginnende Massenpanik. Narcissus zerrte den Kaiser aus seiner Loge, die rote Treppe hinab, gefolgt von Pallas, der die zitternde Agrippina umklammert hielt. Sklaven prügelten dem Kaiserpaar einen Weg durch die Flüchtenden. Der Ausgang zur Linken war durch das Wasser blockiert, deshalb stauten sich alle Ehrengäste auf der rechten Seite. Das Ächzen der Tribüne war einem Krachen gewichen, Balken splitterten, Verstrebungen brachen, die Planken unter den Füßen zitterten. Wer in diesem heillosen Durcheinander den Boden unter den Füßen verlor, stolperte oder ausglitt, war verloren. Füße zertrampelten auf dem Boden liegende Frauen. Schreie der Todesangst brachten auch jene aus der Fassung, die anfangs Ruhe bewahrt hatten. Um einen einzigen Schritt näher zum Ausgang zu gelangen, schlugen sie dem Vordermann mit der Faust auf den Schädel, rammten ihm das Knie in den Leib, daß er zusammensackte, dann stiegen sie über ihn hinweg.
Vitellius hatte, als er im Innern der Tribüne die allgemeine Panik erkannte, eine Luke aufgestoßen, die zu den Zuschauerrängen führte. Er suchte Tullia; aber obwohl die Vestalin in ihrem weißen Schleier eigentlich auffallen mußte, konnte er sie von oben nicht erkennen. Vorne an der Brüstung mußte das Mädchen in einer gefährlichen Lage sein. Aber wo war Tullia?
Mit ein paar schnellen Schritten erreichte Vitellius die verlassene Kaiserloge. In der Mitte war der Boden bereits eingebrochen. Vorsichtig hangelte er sich am Geländer entlang bis zur Mitte, von wo sich der beste Blick nach unten bot. Das Geländer schwankte bedenklich. Vitellius erkannte unten an der Balustrade, die jetzt bereits über dem Wasser hing, vier weiße Schleier.
Er überlegte nicht lange. Mit einem kühnen Sprung hechtete er von der Kaiserloge mitten hinein in die schreienden, drängenden, um sich schlagenden Menschen. Ein stechender Schmerz schoß durch seinen Brustkorb, er spürte, daß unter ihm ein paar Menschen zusammenbrachen; aber blind, nur das eine Ziel vor Augen, rannte er mit Kopf und Fäusten gegen alles an, was ihm den Weg versperrte, bis er mit der Linken Tullia zu fassen bekam. Sie war an das Geländer gedrängt, der Ohnmacht nahe. Vitellius riß sie an ihrem Kleid, zerrte das Mädchen zu sich und hob es über die Schulter.
Mit der Linken hielt er Tullia fest, mit der Rechten schlug er sich einen Weg durch die tobenden Menschen. Das war um so schwieriger, als die Zuschauer auf den Rängen zum Ausgang nach unten drängten, Vitellius aber die Luke in halber Höhe der Tribüne zu erreichen suchte. Stufe um Stufe kämpfte er sich mit dem Mädchen auf der Schulter nach oben. Jetzt merkte er, daß Tullias Arme willenlos herabhingen. »Tullia!« schrie er, »Tullia!« Die Vestalin gab keine Antwort. »Oh, ihr Götter Roms«, betete Vitellius, sich mühsam einen Schritt um den anderen erkämpfend, »Jupiter Capitolinus, Vesta und Roma, laßt eurer Dienerin nichts geschehen. Laßt ein Wunder geschehen und laßt sie leben. So wie mir ein Wunder geschah und ich überlebt habe! Ihr heiligen Götter Roms!«
Betend hatte Vitellius sich aus den Menschenmassen befreit. Die letzten Stufen bis zur Luke nahm er hastig. Vorsichtig ließ er Tullia auf die Planken sinken; dann zerrte er an der Luke. Aber die Klappe, die er kurz zuvor noch mit einer Hand geöffnet hatte, klemmte. Der Rahmen ächzte. So sehr er auch zog und zerrte, die Öffnung blieb geschlossen. Vitellius versuchte, seine Finger in den schmalen Spalt zwischen Lukentür und Rahmen zu klemmen – es gelang nicht. Schließlich riß er Tullia die goldene Fibel vom Kleid, die sie über der Brust trug, stieß das kostbare Schmuckstück in den Spalt und wuchtete so die Luke auf. Dann stieg er in die Öffnung, nahm das Mädchen in beide Arme und zog es in das Innere der Tribüne.
Der düstere Raum war menschenleer. Offensichtlich hatten viele der Gladiatoren die allgemeine Panik zur Flucht genutzt. Das Ächzen und Krachen der Balkenverstrebungen wurde immer bedrohlicher. Vitellius blickte besorgt auf das Gebälk, während er Tullia auf eine Holzbank legte. Erst jetzt sah er, daß die Vestapriesterin nackt war. Ihr weißes Gewand hatte sich,
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