Der gläserne Drache
Wie konnte dieser Unmensch nur so mit ihrer Schwester umgehen? Fauchend wie eine Katze sprang sie auf die beiden zu und ergriff Aninas Hand mit ihrer linken, um sie von Romando fortzuziehen. Da dieser das Mädchen jedoch nicht losließ, schlug Tamira ihm mit einer Reflexbewegung ihre rechte Faust mit Wucht vor die Brust.
Das Ergebnis war verblüffend! Romando flog wie von einem Pferdehuf getroffen quer durch die Bibliothek und prallte mit dem Rücken heftig gegen eine Bücherwand. Stöhnend sank er auf den Boden. In seinen Augen sahen die beiden Mädchen grenzenlose Verblüffung.
Aber auch Tamira und Anina waren völlig entgeistert. Woher war die Wucht dieses Schlages gekommen?
In Tamira dämmerte ein Gedanke auf. Die beiden Brüder konnten, wenn sie sich an den Händen hielten, Gegenstände bewegen. Vielleicht konnten Anina und sie, wenn sie zornig waren, ihre Kraft zusammentun und so verstärken, dass ein Schlag von ihrer Hand ein Vielfaches der normalen Gewalt hatte?
Aber nun überfiel Tamira Angst. Was würde Romando mit ihr nun tun? Sie hatte ihn angegriffen. Würde er sie jetzt töten?
Romando hatte sich aufgerafft. Mit einem eigenartigen Ausdruck im Gesicht kam er nun auf die beiden Mädchen zu. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er von einer zur anderen.
„Ah, was haben wir denn da entdeckt? Noch eine weitere Gabe?“ Seltsamerweise schien sein Zorn verraucht zu sein. „Dann muss ich wohl ab jetzt mit euch beiden sanfter umgehen, bis ich weiß, wie ich mich vor euren Attacken schützen kann.
Aber gut, lassen wir es zunächst dabei bewenden! Zwar hättet ihr beide Strafe verdient, die eine, weil sie sich nicht genug Mühe gibt, und du Tamira, weil du es gewagt hast, die Hand gegen mich zu erheben. Ich will dir aber zugutehalten, dass du nur deine Schwester schützen wolltest, und ich will Gnade vor Recht ergehen lassen, da ihr mir, ohne es zu wollen, eine weitere eurer Fähigkeiten gezeigt habt, mit der ich nicht gerechnet hatte.
Ach, noch etwas, bevor ihr geht! Magritta hat mir euren Wunsch vorgetragen, reiten zu lernen.
Es wäre nicht nötig gewesen, sie damit zu behelligen, denn ich hatte sowieso vor, es euch beibringen zu lassen. Da ihr in nicht allzu ferner Zeit eine Reise mit mir unternehmen sollt, wäre es sowieso unumgänglich geworden.
Ich habe Malux daher angewiesen, euch jeden Nachmittag zu unterrichten. Aber ihr beiden jungen Damen sollt euch nicht einbilden, dass ihr wie Edelfräulein im Damensattel reiten werdet. Für derartigen Schnickschnack haben wir keine Verwendung! Es wird euch daher nichts anderes übrig bleiben, als auf Männerart reiten zu lernen.
Und nun verschwindet, damit euer Anblick mich nicht wieder zornig macht!“
Froh, so glimpflich davon gekommen zu sein, rannten die beiden aus der Bibliothek. Im Speisesaal trafen sie auf die beiden Jungen, die am Fenster standen und sich leise unterhielten, während die Tafel aufgedeckt wurde.
Als die beiden Mädchen hereinstürmten, drehten sie sich herum und gingen ihnen entgegen.
„Was, bei allen Göttern, ist geschehen?“ flüsterte Tanis, als er die verschreckten Gesichter der Schwestern sah. „Ihr seht aus, als habet ihr einen Dämon gesehen!“
„Später!“ wisperte Tamira zurück. „Romando wird wohl gleich hier sein.“
Doch statt des Magiers betrat Magritta den Raum. „Ihr werdet heute Mittag allein essen“, sagte sie, „denn der Herr Romando hat sich in sein Arbeitszimmer zu wichtigen Studien zurückgezogen. Er befiehlt absolute Ruhe im Haus.
Daher werdet ihr nach dem Essen sofort zu Malux gehen, nachdem ihr euch für den Reitunterricht umgezogen habt. Ich warne euch davor, Lärm zu machen, denn der Herr Romando ist nicht besonders guter Stimmung.“
Sie warf den Vieren einen bösen Blick zu und verließ den Speisesaal.
Aufatmend ließen sich die jungen Leute an der Tafel nieder. Besonders Tamira und Anina waren froh, Romandos Gegenwart nicht sofort wieder ertragen zu müssen.
Als die Diener sich entfernt hatten, sagte Tamira daher leise zu Wigo und Tanis:
„Wir sind der Grund, warum Romando wütend ist! Aber wir sollten besser erst darüber reden, wenn wir bei Malux sind. Lasst uns rasch essen und dann zu ihm gehen. Dann werden wir euch erzählen, was geschehen ist.“
Hastig aßen die jungen Leute ein paar Bissen, wobei die beiden Mädchen sowieso kaum etwas hinunter bekommen konnten. Die ausgestandene Angst hatte ihnen jeden Appetit genommen.
So
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