Der gläserne Schrein (German Edition)
unheimlich? Wie sah er denn aus?»
Geli zuckte mit den Achseln. «Na, wie ein Dominikaner halt: weißes Habit, dunkelbrauner Mantel …»
«Er trug einen dunkelbraunen Mantel?», unterbrach Marysa sie und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. «Keinen schwarzen? Die Dominikaner tragen normalerweise schwarze Umhänge.»
«Vielleicht war er auch schwarz», antwortete Geli zögernd. «So genau hab ich nicht hingeschaut. Auf jeden Fall so dunkel wie seine Haare.» Sie hielt inne und sah Marysa aufmerksam an. «Kennt Ihr ihn vielleicht?»
Marysa schüttelte den Kopf. «Nein, Geli, woher denn? Vermutlich war er einer der vielen Pilgermönche, von denen mein Großvater uns berichtet hat. Ganze Heerscharen von ihnen scheinen auf dem Weg nach Aachen zu sein.»
«Wegen der neuen Chorhalle?»
«Ich nehme es an.» Marysa nickte. «Zur Einweihung im Januar werden unzählige Pilger hierher strömen.»
«Dann war er gewiss einer von ihnen», beschloss Geli. «Vielleicht hatte er sich ja verlaufen und sich nicht getraut, Euch nach dem Weg zu fragen.»
«Möglich.» Marysa nagte auf ihrer Unterlippe herum. Es mochte viele Dominikaner geben, die einen dunkelbraunen Mantel trugen. Jedoch nur einer von ihnen besaß die Houppelande aus flämischer Wolle, die einst ihrem Vater gehört hatte.
Betont beiläufig legte sie der Amme den Säugling in die Arme. «Lass uns nach Hause gehen.»
6. KAPITEL
«Ich danke dir, dass du dich um Éliás gekümmert hast.» Jolánda umarmte Marysa herzlich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. «Jetzt komme ich endlich mal wieder zu ein paar neuen Kleidern. Einhard hat mir ganz wundervolle Stoffe zurückgelegt. Bei der Anprobe musst du unbedingt dabei sein.»
«Wenn ich Zeit finde.» Marysa lächelte. «Es bereitet mir Freude, mich um meinen kleinen Bruder zu kümmern. Und auf diese Weise hatte ich auch gleich eine Begleiterin auf dem Weg zum Marienstift. Geli war bestimmt froh, sich die Beine vertreten zu können. Und ich musste nicht einen der Knechte von seiner Arbeit abhalten.»
Jolánda tätschelte ihren Arm. «Ich nehme die beiden jetzt wieder mit in die Kockerellstraße.» Sie zögerte kurz. «Du weißt, dass du durchaus bald eigene Kinder haben könntest. Wenn du dich entschließen würdest …»
«Mutter …» Marysa schüttelte den Kopf.
«Also gut, wie du meinst.» Jolánda drückte sie noch einmal kurz und ging dann zur Tür. «Aber du würdest uns eine große Freude machen.» Damit verließ sie das Haus und winkte Geli, die draußen auf sie gewartet hatte, ihr zu folgen.
Marysa blickte ihrer Mutter so lange nach, bis diese zwischen den Knechten, Mägden und Hausfrauen, die den Büchel bevölkerten, verschwunden war.
Natürlich hoffte ihre Familie auf eine neuerliche Vermählung. Über kurz oder lang würde auch eine stattfinden. Doch augenblicklich fühlte sich Marysa nicht in der Lage, sich der Herausforderung eines neuen Ehegatten zu stellen. Ganz zu schweigen davon, dass sie befürchtete, dieser würde, ähnlich wie Reinold, schon nach kurzer Zeit seine Freude an ihr verlieren.
Reinold hatte immer behauptet, sein Ehebett sei kalt und fade und dass ihr das rechte Feuer unter den Röcken fehle. Tatsächlich hatte sie nie begriffen, was andere Frauen am ehelichen Beischlaf so zu schätzen wussten. Sie hatte Reinolds Zudringlichkeiten zwar nicht als unangenehm empfunden, sie jedoch auch ganz sicher nicht genossen. Vielmehr hatte sie alles recht gleichgültig über sich ergehen lassen. Auf den Gedanken, ihm etwas vorzuspielen, war sie nie gekommen, deshalb konnte sie es ihm auch nicht verübeln, dass er sich bald mit ihr gelangweilt und sein Vergnügen außer Haus gesucht hatte.
Hier, so hatte sie sich irgendwann eingestanden, lag der Kern des Problems. Sie besaß zwar ein recht ansehnliches Äußeres, war wohlhabend und von fröhlichem Gemüt, doch an etwas mangelte es ihr dennoch. Sie hatte als junges Mädchen niemals schwärmerische Neigungen für irgendeinen Nachbarsgesellen entwickelt, hatte nie von einem schmucken Edelmann geträumt, der sie auf seinem weißen Ross entführte. So etwas kannte sie nur aus den Erzählungen ihrer Freundinnen. Sie wusste schlichtweg nicht, wie sich die Liebe anfühlte oder wenigstens das Begehren, das zwischen Mann und Frau aufflammen konnte. Was also, außer Pflichterfüllung, konnte sie einem Gatten entgegenbringen? Und was, außer Gleichgültigkeit, dafür empfangen?
Entschlossen, diese trüben Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen,
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