Der gläserne Schrein (German Edition)
auf Euch beide abgesehen hatten.»
Bardolf runzelte nachdenklich die Stirn. «Ihr meint, jemand hat etwas dagegen, dass Ansem oder ich in der Chorhalle arbeitet?»
«Ein anderer Goldschmied der Zunft vielleicht, der sich bei der Vergabe des Auftrags durch das Marienstift übergangen fühlte», schlug Christophorus vor.
«Das ist Unsinn», widersprach Bardolf. «Keiner der anderen Goldschmiede wäre von den Kanonikern ausgewählt worden. Kaum einer von ihnen hätte überhaupt genügend Erfahrung, geschweige denn ausreichend Gesellen für solch einen Auftrag.»
«Wir sollten es dennoch bedenken», beharrte Christophorus. «Natürlich müssen wir uns auch fragen, wer sonst ein Interesse daran haben könnte, die beiden besten Goldschmiede Aachens aus dem Weg zu räumen.»
***
Den Weg in die Kockerellstraße legten Marysa und Christophorus schweigend zurück. Beide hingen ihren Gedanken nach, die sich zwar um dieselbe Sache drehten, zu denen sich aber beide nicht äußern wollten, denn ihnen fehlte nach wie vor ein logisches Motiv für die Anschläge auf Bardolf und Hyldeshagen. Vor dem Haus ihrer Mutter angekommen, verabschiedete sich Marysa knapp von Christophorus, der sich sogleich wieder auf den Rückweg zum Kaxhof machte, um sich weiter umzuhören und möglicherweise bei den Schöffen vorzusprechen.
Jolánda begrüßte ihre Tochter mit gefasster Miene. Marysa sah jedoch an den Ringen unter ihren Augen und der für ihre Mutter unnatürlichen Blässe, dass diese ganz sicher kaum geschlafen hatte. Deshalb berichtete Marysa ihr sogleich von ihrem Besuch bei Bardolf und dass es ihm gut ging. Als Geli mit Éliás hinzukam, nahm Marysa ihr den Säugling ab. Sie koste ihn, bis er freudig gluckste. Dann setzte sie sich zu ihrer Mutter an den Tisch und gab ihr eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse, wobei sie sowohl den Auftrag des Marienstifts als auch ihre Vermutungen bezüglich der Holzstange mit einschloss. Lediglich ihren gemeinsamen Gesang mit Bruder Christophorus ließ sie aus, denn sie fühlte sich ruhiger, wenn sie nicht mehr daran dachte.
«Du glaubst also, jemand wolle Bardolf und Ansem schaden», fasste Jolánda das Gehörte zusammen. «Aber wer? Und aus welchem Grund?» Sie schüttelte verzagt den Kopf. «Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass jemand so etwas Böses tut. Was sollte es schon bringen, wenn weder Bardolf noch Ansem die Vergoldungen in der Chorhalle vornehmen? Das Marienstift kann ja jederzeit einen Goldschmied von außerhalb beauftragen.»
«Bruder Christophorus vermutet, dass womöglich genau das vom Täter gewollt ist. Vielleicht will sich jemand an den Aufträgen der Kanoniker bereichern.»
«Eine grässliche Vorstellung.» Jolánda schauderte. «Dass jemand so kaltblütig sein soll, wegen des Geldes zwei Mordanschläge zu verüben.»
«Drei sogar», berichtigte Marysa. «Aber es scheint auch mir nicht ausgeschlossen. Immerhin werden die Vergoldungen ausgesprochen gut bezahlt, nicht wahr?»
Seufzend nickte Jolánda, doch dann starrte sie ihre Tochter plötzlich erschrocken an. «Aber Marysa … Hast du mir nicht soeben erzählt, dass du einen großen Auftrag vom Marienstift annehmen willst? Vielleicht wird man dir nun auch etwas antun?»
Marysa runzelte die Stirn. Daran hatte sie bislang noch gar nicht gedacht. «Nein», sagte sie nach kurzer Überlegung. «Ich glaube nicht, dass ich in Gefahr bin, Mutter. Bardolf und Hyldeshagen sind Goldschmiede. Sie haben mit den Schreinbauern nichts zu tun. Bisher sind keine anderen Handwerker zu Schaden gekommen.»
«Ich sorge mich dennoch.» Beschwörend legte Jolánda ihrer Tochter eine Hand auf den Arm. «Versprich mir, dich von der Chorhalle fernzuhalten. Jemand anderer kann die Schreine bauen.»
«Aber Mutter, ich habe Herrn Scheiffart mein Wort gegeben, ihm in einigen Tagen ein Angebot zu unterbreiten», protestierte Marysa. «Gewiss muss ich zunächst klären, ob ich einen weiteren Gesellen einstellen kann, denn mit zwei Männern in der Werkstatt werden wir den Auftrag nicht bewältigen können. Aus Furcht werde ich ihn bestimmt nicht ablehnen.»
«Aber Marysa …»
«Verlang das bitte nicht von mir, Mutter!», fuhr Marysa auf. «Dies ist eine Gelegenheit, die ich ergreifen muss. Bedenke doch, was solch ein Auftrag für meine Werkstatt bedeuten würde.»
«Er kann deinem Ruf aber auch schaden, wenn du den Vertrag nicht erfüllen kannst», wandte Jolánda ein.
«Das weiß ich», erwiderte Marysa. «Wenn es mir allerdings
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