Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
Bemerkung«, korrigierte Blanche ihre Enkelin. »Was meinst du, wie sich ihr Leben als Erwachsene gestalten wird, sollte das Mädchen überleben? Sie hat das Aussehen ihrer Mutter geerbt, Amber.«
»Sie ist Gregs Tochter und deine Enkelin«, beharrte Amber.
»Sie ist ein Bastard, den Greg, dieser Dummkopf, mit seiner chinesischen Geliebten gezeugt hat.«
Blanche wurde plötzlich blass, und sie presste die Hand aufs Herz.
»Was ist los, Großmutter?«, fragte Amber besorgt. »Geht es dir nicht gut?«
»Natürlich geht es mir gut. Mir geht es immer gut, wie du weißt, Amber. Ich habe nichts übrig für Frauen, die von früh bis spät über ihre Gebrechen jammern«, erklärte Blanche mit schneidender Stimme.
Sie mochte vielleicht ihre Enkelin überzeugt haben, dass mit ihr alles in Ordnung war, doch innerlich fühlte Blanche sich schwach und erschüttert. Bisher hatte sie sich nie als alt betrachtet, doch nach Gregs Rückkehr und all den Problemen, die er mitgebracht hatte, wurde sie sich ihrer Sterblichkeit zunehmend bewusst. Nicht dass sie die Absicht hatte, davon je etwas verlauten zu lassen. Der heftige Schmerz, der sie eben aus heiterem Himmel überfallen hatte, war zum Glück verebbt, doch die Probleme, die Gregs Rückkehr mit sich gebracht hatte, würden nicht so schnell verschwinden, vor allem, wenn Amber wegen Gregs Kind auch noch sentimental werden sollte.
Nachdem sie Amber über eine Stunde über Robert, Luc, Osterby und den Laden ausgefragt hatte, entließ ihre Großmutter sie endlich, und Amber konnte in den Kindertrakt eilen, um dort gespannt Gregs Tochter in Augenschein zu nehmen.
Als Amber diese Absicht kundtat, schüttelte die Kinderfrau den Kopf und schnalzte missbilligend mit der Zunge, als stünde Amber immer noch unter ihrer Aufsicht. Das Kindermädchen, das Jay für das kleine Mädchen gefunden hatte, war jedoch beruhigend jung und verfügte über ein gewinnendes Lächeln und eine sanfte Art.
»Wie heißt die Kleine denn, Betsy?«, fragte Amber das Mädchen.
»Master Greg hat gesagt, dass sie Lin Hua genannt wird, Euer Gnaden. Das heißt auf Chinesisch wohl Schöne Jadeblume, aber Mrs Pickford hat gesagt, sie will nicht, dass wir sie bei einem so heidnischen Namen nennen, deswegen hat Master Greg gemeint, wir sollen sie Rose rufen.«
Das kleine Mädchen war so winzig, dass Amber vor Schreck den Atem anhielt, als sie es unter all den Rüschen und Decken des kunstvoll verzierten alten Kinderbettchens liegen sah.
»Fast zwei ist die Kleine, und dabei sieht sie aus, als wär sie nicht mal ein halbes Jahr alt«, klagte Betsy.
Die Haut der Kleinen war so gelb, dass es besonders unfreundlich schien, sie Rose zu nennen. Sie schlug die dunklen Augen auf, und ihr Blick war leer und teilnahmslos. Ihre Not weckte in Amber sämtliche Mutterinstinkte. Sie beugte sich hinab und hob das Kind aus dem Bettchen, schockiert, wie wenig es wog. Luc war in diesem Alter ein gesunder, kräftiger Junge gewesen, der seit vielen Monaten laufen konnte und schon anfing zu sprechen. Dieses elende Häufchen Mensch sah eher aus wie eine Wachspuppe als wie ein Kind.
»Sie ist so kalt«, sagte sie zu dem Kindermädchen.
»Aye, Euer Gnaden. Der Doktor sagt, das kommt, weil sie so schwach ist. Ich soll ihr alle vier Stunden eine frische Wärmflasche ins Bett legen. Mr Jay hat noch ein Kindermädchen angeheuert, das die Nachtwachen hält.«
»Isst sie denn ordentlich?«
»Ordentlich würd ich das nicht nennen«, meinte Betsy. »Sie bekommt abgekochtes Wasser und ein bisschen Säuglingsnahrung, weil Dr. Brookes meint, mehr verkraftet sie nicht, aber von dem angerührten Pulver nimmt sie nicht viel, und wenn doch, kommt es ihr wieder hoch.«
»Das arme kleine Ding, so allein an einem fremden Ort, ohne seine Mutter, es muss sich schrecklich einsam fühlen.«
Als Amber das kleine Mädchen zurücklegen wollte, stieß es ein leises, verstörtes Quäken aus.
»Sie mag Sie, Euer Gnaden«, lächelte Betsy. »Ich glaube fast, sie will nicht, dass Sie sie wieder in ihr Bettchen legen. Das ist das erste Mal, dass ich das bei ihr sehe.«
Bevor Amber darauf antworten konnte, kam Dr. Brookes. Solange sie denken konnte, war er ihr Hausarzt, und er lächelte freundlich, als er sie sah.
»Sie ist so dünn und so klein«, seufzte Amber, als Dr. Brookes sich daranmachte, Gregs Tochter zu wiegen.
»Ja. Sie hat eine sehr schwere Gelbsucht hinter sich, daher ist ihre Haut so gelb. Deswegen hat sie auch solche Probleme mit der Galle,
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